Grenzgänger

 

Suat Özkan sitzt an einem Tisch in Ost-West-Backshop an der Bernauer Straße in Berlin. Er trägt einen eleganten blauen Anzug, sein Haar ist zurückgegelt, wache Augen blicken durchs Schaufenster. Autos rasen entlang der vierspurigen Straße, eine Tram sammelt Passagiere ein, Fahrradfahrer pflügen auf dem Radweg vorbei. „Sehen Sie mal, hier ist alles voller Laub, und nun gucken Sie mal auf die andere Straßenseite. Alles sauber. Das ist der feine Unterschied. Da drüben würde man das nicht dulden“, intoniert Özkan melodisch. Wenn der Unternehmer von der anderen Seite spricht, dann meint er Mitte im früheren Osten. Sein Backshop liegt im Weddinger Brunnenviertel, im ehemaligen Westen. Hier lebte Özkan schon als Kind, nachdem er mit sechs Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen war. „Wir haben hier an der Mauer Fußball gespielt, unsere Autos gewaschen. Kein Fremder ist reingekommen. Das war unsere Straße“, sagt er. 28 Jahre durchtrennte die Mauer die beiden Viertel entlang der Bernauer Straße. Heute erinnert eine 1,4 Kilometer lange Freiluftausstellung mit Mauerresten und Gedenktafeln an die Teilung. Der Schnitt durch die Stadt war hier besonders drastisch. Die Gegend war dicht bebaut. Es gab keinen Platz für eine breite Grenzanlage. Die Häuser selbst wurden Teil der Absperrung. Verzweifelte hechteten über Stacheldraht, sprangen aus Fenstern, gruben Tunnel, um in den Westen zu fliehen. Im August 1961, neun Tage nach Abriegelung der Sektorengrenze, forderte die Mauer hier ihr erstes Todesopfer. Viele weitere sollten folgen. Nun ist die Mauer genauso lange weg, wie sie gestanden hat. Doch noch immer sprechen Menschen wie Suat Özkan von „drüben“ und von „der anderen Seite“. Wie gut also sind die beiden Teile der Stadt an dieser Stelle zusammengewachsen?

Ein transkultureller Wanderer

Suat Özkan beschäftigt sich täglich mit der Geschichte der Berliner Mauer. Er sieht sich selbst als einen transkulturellen Wanderer zwischen Ost und West und zwischen Orient und Okzident. Sein Backshop gleicht einem Museum. Der kleine Laden ist vollgestopft mit Mauersteinen und Ost-Relikten. Auf Bildschirmen über der Theke wechseln sich historische Fotos mit Quizfragen über die DDR ab. „Ich hab’ die Vision, dass wir hier einen Ort der Begegnung und der Erinnerung schaffen“, sagt Özkan. Für Touristen, für Berliner und für seine Angestellten.

» Die Gesellschaft besteht aus kleinen Biotopen, die wir miteinander verbinden müssen. «

Suat Özkan, Betreiber des Ost-West-Cafés

Er bildet Jugendliche aus sozial schwachem Milieu aus, stellt Frauen mit oder ohne Migrationshintergrund ein, die aus zerrütteten Verhältnissen kommen. Er erzählt von einem irakischen Flüchtling und einem deutschen Jungen, die bei ihm arbeiten. „Ich habe ihnen gesagt, ihr seid jetzt wie Brüder, lernt gegenseitig eure Kultur kennen“, so der promovierte Jurist. Denn eine Gesellschaft bestehe aus kleinen Biotopen, die verbunden werden müssen. Und unterschiedlicher könnten die Biotope diesseits und jenseits der Bernauer Straße nicht sein. Die verfallenen Gründerzeithäuser in Mitte sind saniert, Baulücken mit Stadthäusern gefüllt. Cafés, Boutiquen, Restaurants und Bioläden säumen die Straßen. Hier leben junge Familien, viele aus Westdeutschland, privilegierte Migranten, Besserverdiener. Im Brunnenviertel hingegen: Sozialbauten aus den 60er- und 70er-Jahren, Spielhallen, Wettbüros und Discounter. Der Anteil der Arbeitslosen ist fast dreimal so hoch wie südlich der Bernauer Straße, mehr als die Hälfte der Bewohner haben Migrationshintergrund. „Als die Mauer noch stand, hat sich keiner für uns interessiert“, erinnert sich Özkan. Das ändere sich langsam. Die Nähe zu Mitte macht das Viertel attraktiver. Die Mieten steigen. Özkan mahnt vor einer modernen finanziellen Spaltung. Das sehe man in Frankreich. „Da werden Menschen in Randbezirke abgeschoben.“

1,4 Kilometer lang ist die Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße. Nirgendwo ist der Schrecken so erlebbar wie hier in Berlin Mitte.

Suat Özkan (oben) betreibt am Mauerstreifen Café und Backshop. Wenige Schritte weiter bestaunen Touristen die letzten echten Reste der Inlandmauer.

Seelsorger am alten Todesstreifen

Ein paar Hundert Meter weiter, entlang dem breiten Grünstreifen der Mauergedenkstätte, vorbei an Schülergruppen, an Touristen-Bussen und an Berlinern, die ihre Hunde ausführen, erreicht man die Kapelle der Versöhnung. Sie steht seit 1999 an der Stelle der alten Versöhnungskirche, die 1985 vom SED-Regime gesprengt wurde. Seit fünf Jahren ist Thomas Jeutner hier Pfarrer. Als der schlanke 57-Jährige seinen Posten antrat, überlegte er, wie man die Menschen unterschiedlichster Herkunft, Religionen, sozialer Schichten zusammenbringen kann. „Milieus bleiben auch in Gegenden unter sich, wo es keine Grenzen gegeben hat. Das sei ein Naturgesetz. „Doch den Anspruch, dass es Brücken gibt, den sollte man haben.“ Eine dieser Brücken ist der Nachbarschaftsgarten hinter der Kapelle. Jeder könne hierher kommen zum Säen, Jäten, Unkraut rupfen: „Auf das Projekt sind wir sehr stolz.“ Es ginge darum, dass die Menschen ins Erzählen kommen. „Das braucht nicht viel. Aber es ist einer meiner glücklichsten Momente, wenn die Leute hier aufeinander treffen.“

Thomas Jeutner ist Pfarrer an der Kapelle der Versöhnung auf dem alten Todesstreifen. Aufgewachsen ist er mit Blick auf die Bernauer Straße, im Ostteil Berlins.

Jeutner ist im Osten aufgewachsen. Von seinem Studentenzimmer konnte er die Neubauten an der Bernauer Straße auf der anderen Seite der Mauer sehen. Diese waren in den 60er- und 70er-Jahren im Zuge der bis dato größten Stadtsanierungsmaßnahme der Bundesrepublik entstanden. Bis heute sorgen sie dafür, dass Berlin an dieser Stelle nicht wirklich zusammenwachsen will. Ganze Straßenzüge wurden ausradiert, die alten Mietskasernen abgerissen, die Bewohner ins Märkische Viertel umgesiedelt. Es sollte bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden. Alles sollte besser werden. Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Jene, die es sich leisten konnten, zogen weg. Die Einwohnerzahl halbierte sich. Seitdem ist im Brunnenviertel nicht viel passiert.

» Ich fühle mich wie ein Pfarrer im Osten, als es die Mauer noch gab. «

Thomas Jeutner, Pfarrer an der Kapelle der Versöhnung

Es gibt nur wenige Geschäfte, ein paar Eckkneipen. Die Straßen wirken verwaist. Die einst schicken Sozialbauten sind in die Jahre gekommen und bedrücken in ihrer Eintönigkeit.„Ich konnte mir damals gar nicht vorstellen, was da für Leute in diesen Wohnungen leben“, sagt Jeutner. Heute ist er ihr Seelsorger. Einige seiner rund 1.000 Gemeindemitglieder wohnen in diesen Häusern. „Es ist eine alte, einsame Minderheit. Wenn ich die besuche, spüre ich auch die Bedrückung. Ich fühle mich wie ein Pfarrer im Osten, als es die Mauer noch gab. Es gibt wenig, aber wir machen viel daraus“, so Jeutner. Ganz anders sieht es in Mitte aus, wo nach der Wende ein Bevölkerungsaustausch stattgefunden hat. Die Mitglieder seiner dortigen Nachbargemeinde sind im Schnitt 35 Jahre alt. „Da kann ich vor Neid nur erblassen. Die sind aus Westdeutschland hergezogen, aus volkskirchlich geprägten Ecken.“

Die unermüdliche Schulleiterin

Um die jungen Leute aus dem Ostteil buhlt auch Sabine Gryczke. Die 60-Jährige mit dem Herbstlaubhaar ist Leiterin der Gustav-Falke-Schule in der Strelitzer Straße, nur ein paar Schritte von der Versöhnungskapelle entfernt. Das Backsteingebäude ist eines der wenigen, das den westdeutschen Kahlschlag überlebt hat. „Die Grundsünde war, hier ein sozial gespaltenes Gebiet entstehen zu lassen“, sagt Gryczke, die selbst hier aufgewachsen ist. Seit 30 Jahren arbeitet sie an der Schule. Als sie anfing, waren etwas mehr als die Hälfte der Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache. Der Mauerfall habe dann den Wegzug der deutschen und der bildungsorientierten Eltern beschleunigt. 2009 lag die Zahl der Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache bei 95 Prozent. Es gab nur noch 340 Schüler. Um die Schule vor der Schließung zu retten, musste Gryczkes Vorgängerin das Bildungsbürgertum aus Mitte davon überzeugen, ihre Sprösslinge zu ihnen zu schicken, um mit Migrantenkindern die Schulbank zu drücken. Ein gewagter Modellversuch: Ab der ersten Klasse wurden Englisch und Naturwissenschaften unterrichtet, das Sprachumfeld war deutsch. Das Projekt war ein Erfolg. Mittlerweile werden ab allen ersten Klassen Englisch und Naturwissenschaften unterrichtet. Hinzu kamen Demokratiebildung, das Einsetzen von Konfliktlotsen und Sanitätsdienst. Für die Integration müsse erst das Gefühl entstehen, dass man wertgeschätzt wird. „Dazu gehört, dass man Förderung erfährt und im zunehmenden Maße Verantwortung für die Gemeinschaft übernimmt. Zugehörigkeit und Verantwortungsübernahme sind die Grundlagen gelungener Demokratieerziehung.“

Schulleiterin Sabine Gryczke hat geschafft, was wenige für möglich hielten: Ihre Schule besuchen auch Kinder von jenseits der alten Grenze.

Heike Mohaupt-Wonnemann ist eine der Mütter, die das Konzept der Gustav-Falke- Schule überzeugt hat. Sie lebt mit ihren drei Kindern in einem Neubau in Mitte, nur einen Häuserblock vom ehemaligen Todesstreifen an der Bernauer Straße entfernt. Ihr Sohn besuchte die erste Modellklasse, lernte mit Kindern aus elf Nationen. „Am Anfang war der Schulweg ins Brunnenviertel schon unheimlich. Wir sind da jeden Tag gegen den Strom gelaufen“, erinnert sich die 47-Jährige. Heute ist sie froh über ihre Entscheidung, hat auch ihre beiden anderen Kinder an die Gustav- Falke-Schule geschickt. „Es ist eine Bereicherung. Die Kinder sind offener, eine gemischte Gesellschaft ist für sie selbstverständlich. Es dreht sich nicht immer alles nur um sich und seinesgleichen.“ Und so trennt die Bernauer Straße bis heute zwei Welten. Die Kluft zwischen den beiden Vierteln sei heute allerdings eine soziale und eine finanzielle, so die Schulleiterin Sabine Gryczke. Eines sei aber 28 Jahre nach dem Mauerfall erreicht: „Die alten Grenzen zwischen Ost und West spielen für die Kinder heute gar keine Rolle.“

Vollständige Einheit auch bei der Rente

Endlich ist es so weit. Ab diesem Jahr wächst Deutschland auch bei der Rente vollständig zusammen. Fast 30 Jahre nach dem Mauerfall gibt es noch immer Unterschiede zwischen Ost und West im Rentenrecht. Diese gleichen sich jedoch von Juli 2018 bis Juli 2024 an schrittweise aneinander an. So steigt die Rechengröße „Rentenwert Ost“ auf Westniveau. Im selben Zeitraum schmilzt auch die Höherbewertung der Ost-Löhne langsam ab. Im Jahr 2025 wird die Renteneinheit dann endgültig vollendet sein. Dann werden alle ost- und westdeutschen Rentner und Arbeitnehmer rentenrechtlich genau gleich behandelt.