Wer über das Thema Ehrenamt spricht, denkt häufig zuerst an Fußballtrainer, an Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr, an Helfer bei der Tafel oder Lesepaten in der Grundschule. Doch neben diesem institutionellen Engagement gibt es auch jenes, das im Privaten stattfindet: Millionen von Menschen versorgen Tag für Tag, Jahr für Jahr Angehörige, Freunde oder Nachbarn, die dazu selbst nicht mehr in der Lage sind. Sie sind die heimlichen Helden unserer Gesellschaft, weil sie anderen die Möglichkeit verschaffen, trotz gesundheitlicher Einschränkungen so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung zu leben. 4,1 Millionen Menschen sind in Deutschland pflegebedürftig und benötigen dauerhaft Hilfe. Vier von fünf unter ihnen werden laut Statistischem Bundesamt zu Hause versorgt – von professionellen Pflegern, aber oft auch von Menschen aus ihrem nächsten Umfeld.
Frauen übernehmen diese Aufgabe besonders oft – neuesten Studien zufolge doppelt so häufig wie Männer. Dazu treten sie selten nicht nur privat, sondern auch beruflich kürzer; sie stecken zurück, suchen sich Stellen mit flexibleren Arbeitszeiten oder reduzieren ihre Stunden. Gerade für sie ist es wichtig, die eigene berufliche Zukunft nicht aus dem Blick zu verlieren und für das Alter vorzusorgen. Die Deutsche Rentenversicherung leistet dazu einen wichtigen Beitrag: Wer im privaten Bereich pflegt, bekommt dafür je nach Höhe des Pflegegrades ein Plus für die Rente (siehe Interview Seite11). Davon profitieren auch Menschen wie Darlene Trost, Andreas Schneider-Bujack und Tina Kouemo, deren Engagement bei der Pflege ihrer Familienangehörigen hier geschildert wird.
1. Darlene und Stephan Trost
Wohnort: Eberbach | Erkrankung: Proximale Tetraparese Pflege seit: 2018 | Pflegegrad: 3

„Ich habe nicht eine Sekunde überlegt, ob ich Papas Betreuung übernehmen soll“
Darlene Trost (27) pflegt seit vier Jahren ihren Vater Stephan.
Der Moment, in dem sich das Leben von Darlene Trost und ihrem Vater Stephan grundlegend ändert, ereignet sich auf einer Urlaubsreise im Jahr 2016. Eines Morgens nach dem Aufstehen bemerkt der damals 49-Jährige, dass seine Finger stark angeschwollen sind. „Wir haben uns nichts weiter dabei gedacht“, erzählt Darlene Trost heute. Doch nach der Rückkehr werden die Beschwerden schlimmer. Auch Stephan Trosts Hände und Gelenke schwellen an, er verliert das Gefühl im ganzen Körper. Der Familienvater kann sich nur noch mühsam bewegen, seine Leberwerte verschlechtern sich rapide. Hinzu kommt eine Erkrankung an der Lunge. Kurz darauf folgt ein weiterer Schicksalsschlag für die Familie: Stephan Trosts Ehefrau stirbt vollkommen unerwartet. Die Tochter zögert keine Sekunde: Sie gibt ihre neue Wohnung auf, die sie erst vier Monate zuvor bezogen hat, und kehrt zurück in ihr Elternhaus. „Mir war sofort klar: Papa braucht mich jetzt.“ Die Trauer um seine Frau, das plötzliche Alleinsein und die körperliche Einschränkung – das ist zu viel für ihren Vater, um es ohne Unterstützung zu bewältigen, merkt Darlene Trost.

2019 gibt Stephan Trost seine Arbeit als IT-Experte auf, ab Mitte 2020 bekommt er eine volle Erwerbsminderungsrente von der Deutschen Rentenversicherung, die für solche Fälle die Rolle des sozialen Auffangnetzes einnimmt. Darlene, die als ausgebildete Heilerziehungspflegerin in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung arbeitet, reduziert ihre Arbeitszeit auf 27 Stunden wöchentlich und arbeitet fortan vor allem nachts.
Tagsüber führt sie den Haushalt, kocht entsprechend dem ärztlich vorgeschriebenen Ernährungsplan, hilft ihrem Vater beim Waschen, übernimmt den Austausch mit Ärzten und der Krankenkasse. Viel Zeit für sich bleibt bei der Doppelbelastung nicht.
Pausen von der Pflegetätigkeit seien ihr dennoch wichtig, sagt die 27-Jährige. Ihre Freunde, von denen viele Stephan Trost bereits als Kinder kannten, wüssten um die Situation und seien ihr eine wertvolle Stütze. „Sie besuchen mich und meinen Vater zu Hause, wir kochen oder spielen gemeinsam“, erzählt sie. Oft sitzen ihr Vater und sie zusammen und schauen ihre Lieblingsserien. Und wenn ihr doch mal die Decke auf den Kopf falle, reiche schon eine Verabredung zum Kaffee mit einer guten Freundin oder eine Shoppingtour, um neue Energie zu tanken. „Natürlich frage ich mich manchmal, warum das Schicksal der Erkrankung gerade Papa treffen musste“, erzählt Darlene Trost. „Aber ich finde, wir meistern unsere Situation ziemlich gut.“ Sie sei froh um jeden Tag, den sie mit ihrem Vater verbringen könne.
Pflege in Deutschland - Anzahl der Pflegefälle wächst von Jahr zu Jahr:
Anzahl der Pflegebedürftigen in Deutschland in den Jahren 1999 bis 2019 (in 1.000):

Die Mehrheit wird zu Hause gepflegt (nach Altersgruppen):

51,3% der Pflegebedürftigen in Deutschland wurden im Jahr 2021 durch Angehörige gepflegt.

Broschüre: Rente für Pflegepersonen: t1p.de/Pflege-und-Rente
2. Andreas Schneider-Bujack und Karin Bujack
Wohnort: Kiel | Erkrankung: Multiple Sklerose Pflege seit: 2022 | Pflegegrad: 4

„Ich habe meiner Frau geschworen, immer für sie da zu sein“
Andreas Schneider-Bujack (55) betreut seine Frau Karin, die an Multipler Sklerose erkrankt ist.
Als Karin Bujack vor mehr als 20 Jahren die Diagnose „Multiple Sklerose“ erhält, ist die Krankheit für sie und ihren Mann Andreas zunächst noch ganz weit weg. „Wir sind ganz pragmatisch mit der neuen Situation umgegangen, weil wir wussten, dass wir nichts daran ändern können“, erzählt Andreas SchneiderBujack. „Außerdem ist meine Frau ein lebensbejahender Mensch, das hat geholfen.“ Erst als nach der Geburt der gemeinsamen Tochter erste Anzeichen einer Verschlechterung auftreten, rückt die Diagnose verstärkt ins Zentrum des Lebens des Ehepaars. Immer häufiger erlebt Karin Bujack die für die Erkrankung typischen Schübe, das Gehen fällt ihr zunehmend schwerer, sie muss ihren Beruf als Restauratorin aufgeben. Ab dem Jahr 2003 erhält sie eine volle Erwerbsminderungsrente von der Deutschen Rentenversicherung.
Im Januar 2022 erfolgt dann ein großer Schock: Karin Schneider-Bujack wird mit einer akuten Sepsis und einer Entzündung des Darms ins Krankenhaus eingeliefert, das gesamte Immunsystem liegt am Boden. Die Ärzte lassen sie künstlich beatmen und schließen sie an die Dialysemaschine an.
2,1 Millionen Pflegebedürftige werden durch Angehörige zu Hause versorgt.
Quelle: Statistisches Bundesamt 2019

„Unsere Tochter, meine Schwägerin und ich saßen gemeinsam zu Hause und haben überlegt, ob wir Karins Patientenverfügung umsetzen müssen“, erzählt Andreas Schneider-Bujack heute, rund ein halbes Jahr später. Doch seine Frau ist eine Kämpferin. Sie kommt wieder auf die Beine, darf nach drei Monaten zurück nach Hause. Die Freude ist groß, doch nun benötigt sie rund um die Uhr Pflege. „Dass meine Frau nach dem Krankenhausaufenthalt wieder zu uns kommt, war überhaupt keine Frage“, erzählt der 55-Jährige. „Ich habe ihr vor 20 Jahren bei unserer Hochzeit einen Schwur gegeben, in guten wie in schlechten Zeiten für sie da zu sein. Wir hatten schöne Jahre, und jetzt ist es schwierig.“ Ein Pflegeheim kommt für ihn nicht infrage.
Doch Schneider-Bujack weiß, dass er es allein nicht schafft. Er ist Projektmanager und arbeitet in Vollzeit. Ihre Tochter studiert in Berlin, der Rest der Familie lebt in der Schweiz. Er holt sich Hilfe. Ein Pflegedienst kommt sieben Tage die Woche – morgens, abends sowie zweimal in der Nacht. Die Mitarbeiter helfen Karin Schneider-Bujack aus dem Bett in den Rollstuhl und waschen sie. Damit sie sich nicht wund liegt, muss sie nachts zweimal umgelagert werden. Um fast alle anderen Belange kümmert sich Andreas Schneider-Bujack, der seinen Job größtenteils vom Homeoffice aus erledigen kann. Er wechselt den sogenannten Stoma-Beutel, den seine Frau wegen des künstlichen Darmausgangs benötigt, besorgt die Medikamente, bereitet das Essen zu, fährt sie zu Arztterminen. Seine Frau, sagt er, habe häufig Sorge, dass sie ihm zu viel zumute. Andreas Schneider-Bujack winkt ab. Er weiß, dass sie es auch für ihn tun würde.
3. Tina und Kyle Kouemo
Wohnort: Kirchheim | Erkrankung: FoxG1- Syndrom | Pflege seit: 2012 | Pflegegrad: 5

„Ich sehe sofort, wenn etwas mit Kyle nicht stimmt“
Tina Kouemo (43) pflegt ihren zehnjährigen Sohn Kyle, der an einem seltenen Gendefekt leidet.
Anfangs ist alles wie in jeder anderen Familie auch. Als Tina Kouemo 2012 ihren Sohn Kyle zur Welt bringt, geht es ihr und ihrem Mann wie allen jungen Eltern. Sie schlafen wenig, sind erschöpft – und genießen trotz der Anstrengung die Zeit mit ihrem Baby in vollen Zügen. Doch nach vier Monaten bemerken sie, dass etwas an Kyle anders ist. „Er fixierte nicht richtig, dazu kam seine andauernde Schlaflosigkeit“, erinnert sich Tina Kouemo.
Die Kouemos haben ein ungutes Gefühl, wenden sich an einen Arzt. Und damit beginnt für die Familie eine Odyssee durch zahlreiche Krankenhäuser. Ist es ein neurologisches Problem? Ist es eine Stoffwechselerkrankung? Immer wieder werden Diagnosen verworfen. Es dauert drei Jahre, bis klar ist, woran ihr Sohn leidet – am FoxG1-Syndrom. Das ist ein seltener Gendefekt, den deutschlandweit nur rund 80 Kinder haben. Er sorgt dafür, dass die Betroffenen sich nicht im normalen Tempo entwickeln können.

Die Erkrankung geht zudem mit schweren epileptischen Anfällen einher, die lebensbedrohlich sein können. Um das zu verhindern, braucht Kyle ausreichend und regelmäßig Schlaf sowie feste Routinen. „Als wir erfuhren, was Kyle hat, dass er niemals laufen und sprechen lernen wird, ist für uns anfangs eine Welt zusammengebrochen.“ Doch Tina Kouemo hat schnell wieder nach vorne geblickt und beschlossen: Sie will für ihr Kind da sein, ihm das beste Leben ermöglichen, das unter diesen Umständen möglich ist. Sie lernt Kyles Bedürfnisse zu lesen. „Ich sehe schon an seinem Blick, wenn sich beispielsweise ein Anfall ankündigt, und kann rechtzeitig eingreifen.“ Auch darum kam es für die 43-Jährige nie infrage, die Pflege ihres Sohnes aus der Hand zu geben. Und das, obwohl die Betreuung ein 24-Stunden-Job ist. Weil Kyle nur schwer schlucken kann und leicht Verstopfung bekommt, kann der Zehnjährige nur passiertes Essen zu sich nehmen, muss eine spezielle Diät halten. Auch deren Zubereitung liegt in Tina Kouemos Verantwortung.

Immer wieder gerät Tina Kouemo an ihre körperlichen und psychischen Grenzen. Ihr Mann, ein Ingenieur, arbeitet Vollzeit. Sie selbst hat ihren Beruf als Controllerin in der Automobilbranche wegen Kyles Pflege aufgegeben und eine 50-Prozent-Stelle im Kundendienst angenommen. „Mein Chef ist verständnisvoll, er hat Erfahrung mit Menschen mit Behinderung und versteht, wenn ich früher gehen muss, weil es Kyle nicht gut geht.“ Nachts, wenn sie nicht schlafen kann, weil die Sorgen um Kyles Gesundheit und seine Zukunft zu groß sind, schreibt sie E-Mails an Politiker, um zu erklären, wie die Situation pflegender Eltern aussieht und was verbessert werden kann. Um Änderungen voranzutreiben, engagiert sie sich außerdem im bundesweiten Verein „Wir pflegen“.
Die Kouemos haben noch ein zweites Kind bekommen. Bevor der heute sechsjährige Noé zur Welt kam, ließen seine Eltern sicherstellen, dass er nicht die gleiche Genmutation in sich trägt wie sein großer Bruder. „Noé gibt mir eine wahnsinnige Kraft“, sagt Tina Kouemo „Er ist ein empathischer kleiner Kerl. Manchmal hören er und Kyle gemeinsam in Kyles Gitterbett ein Hörspiel.“ Der kleine und der große Bruder friedlich vereint – trotz aller Unterschiede. Das sei ein Moment, in dem sie Glück empfinde. Keine Frage, das Leben der Familie ist anders, als Tina Kouemo und ihr Mann es sich vor Kyles Geburt ausgemalt haben. Es gegen ein anderes tauschen zu wollen, diesen Gedanken hatte die junge Mutter jedoch noch nie.
Drei Fragen an die Deutsche Rentenversicherung: „Häusliche Pflege kann die Rente erhöhen“

Herr Dornhege, wie wirkt sich die Pflege von Angehörigen auf die spätere Rente aus?
Menschen, die Angehörige, Nachbarn oder Freunde in deren häuslichem Umfeld pflegen, können dadurch ihre Rente erhöhen: Die Pflegeversicherung zahlt Rentenversicherungsbeiträge je nach Art der Pflegeleistung und dem Pflegegrad der zu pflegenden Person. Die Zeit der Pflege wird außerdem auf die sogenannte Wartezeit angerechnet. Die muss erfüllt sein, um bestimmte Leistungen aus der Rentenversicherung zu erhalten.
Welche Voraussetzungen müssen pflegende Angehörige erfüllen?
Angehörige müssen den Mindestpflegeumfang erfüllen. Dies bedeutet, dass die Pflege wenigstens zehn Stunden in der Woche umfassen muss, verteilt auf zwei oder mehr Tage. Und die Pflegeperson darf regelmäßig nicht mehr als 30 Stunden pro Woche in einem anderen Arbeitsverhältnis erwerbstätig sein. Wichtig ist, dass die Pflege in der häuslichen Umgebung erfolgt und eine pflegebedürftige Person mit Pflegegrad 2 oder höher betreut wird.
Gelten diese Regeln auch für pflegende Rentnerinnen und Rentner?
Ja, wenn sie noch vor Erreichen der Regelaltersgrenze eine Rente beziehen. Jenseits der Regelaltersgrenze gilt dies nur noch für Rentnerinnen und Rentner, die eine Teilrente erhalten. Für sie zahlt die Pflegekasse weiterhin Beiträge an die Deutsche Rentenversicherung.