Mutiger Schritt: Ausbildungsstart mit 40 Jahren.
Mutiger Schritt: Ausbildungsstart mit 40 Jahren.



Auf dem Bildungsweg

Nach fünf Kindern und 20 Jahren Mutterdasein noch einmal einen neuen Beruf erlernen, sich vom Hauptschüler zum Oberarzt hocharbeiten oder mit Mitte 50 vom Wirt zum Zugbegleiter umschulen – der Weg durchs Berufsleben steckt oft voller Überraschungen. Dass auch vermeintlich ungerade Lebensläufe am Ende zum Ziel führen, belegen die Geschichten von drei Menschen, die zukunft jetzt begleitet hat. Und sie zeigen, wie wichtig es ist, sich im Laufe eines Berufslebens beständig weiterzuqualifizieren – gerade heute, wo sich viele Bereiche enorm schnell entwickeln, ständig neue Technologien entstehen und die Herausforderungen für Arbeitnehmer sehr groß geworden sind.

Außerdem verspricht höhere Bildung nicht nur mehr gesellschaftliche Teilhabe, sondern in der Regel auch ein höheres Gehalt sowie in späteren Lebensjahren höhere Alterseinkünfte. „Wir werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vielerlei Umbrüche in unserem Arbeitsmarkt erleben, viele Berufe werden sich angesichts der Digitalisierung und der Automatisierung vollständig wandeln, neue Tätigkeitsfelder entstehen“, sagt ­Basha ­Vicari, die als Arbeitsmarktforscherin am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg arbeitet. Angesichts dieser Dynamik sei es wichtiger als je zuvor, flexibel zu sein und Bereitschaft zu zeigen, sich ständig weiterzubilden.

„Meine Kinder sind groß und ich dachte: Das kann doch nicht alles ­gewesen sein.“

Irene Leer (42)
macht eine Ausbildung zur Lebensmitteltechnikerin

Irene Leer bei der Ausbildung

Die Spätberufene

Als Irene Leer die Stellenausschreibung las, wusste sie sofort: jetzt oder nie. Die Lüneburgerin war gerade 40 Jahre alt geworden, von denen sie zwei Jahrzehnte lang Vollzeitmutter war. In dieser Zeit hatte sie sich um ihre fünf Kinder gekümmert, die nun zwischen 13 und 22 Jahre alt waren. Sie hatte die fünf aufgezogen, durch den Kindergarten und die Schule begleitet, zu Veranstaltungen und Terminen gefahren – und dafür ihre eigenen Bedürfnisse weitgehend hintangestellt.

„Auch beruflich befand ich mich im Stillstand“, sagt ­Irene Leer offen. Sie habe es nie bereut, die Kinder zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht zu haben. In den letzten Jahren jedoch sei ihr immer stärker der Gedanke gekommen, wie es denn nach den Kindern weitergehen soll: „Ich spürte plötzlich ganz deutlich den Wunsch, noch einmal etwas zu wagen. Mich herauszufordern. Ich dachte: Ich bin erst 40 Jahre alt, es sind noch mindestens 25 Jahre bis zur Rente, da muss noch etwas kommen.“ Die Aussicht, einen Minijob an den nächsten zu reihen, erschien ihr nicht attraktiv.

Die Lebensmittel­technikerin im Labor.

Irene Leer zerbrach sich den Kopf und spielte mit ihrem Mann viele Möglichkeiten durch. Welche Tätigkeit würde zu ihr passen? Eine Ausbildung zur Friseurin hatte sie zwar vor 23 Jahren angefangen, aber wegen gesundheitlicher Schwierigkeiten nie abgeschlossen. Leer litt an Endometriose, einer entzündlichen Unterleibserkrankung. Trotzdem wurde sie mit 20 Jahren überraschend schwanger: „Die Ärzte hatten mir gesagt, dass ich auf natürlichem Weg kaum ein Kind bekommen würde“, erinnert sich die fünffache Mutter. Ihre Versuche, die Ausbildung zu Ende zu bringen, scheiterten, als immer häufiger vorzeitige Wehen eintraten. „Ab da war ich raus aus dem Arbeitsmarkt“, sagt die heute 42-Jährige. Stattdessen bekommen sie und ihr Mann weitere vier Kinder, jeweils im Abstand von zwei Jahren. Erst vor drei Jahren wagte Leer den Schritt zurück auf den Arbeitsmarkt. Sie bewarb sich im regionalen Produktionsbetrieb eines internationalen Getränkeherstellers um einen Ausbildungsplatz zur Lebensmitteltechnikerin. „Ich war unglaublich aufgeregt: Würde mein Alter ein Ausschlusskriterium sein?“

Im Gegenteil: Die Personaler waren begeistert von Leers Engagement und ihrem Willen, noch einmal durchzustarten. Noch am Tag des Vorstellungsgesprächs bekam sie die Zusage und schon wenige Wochen später begann sie mit der Ausbildung. Eine riesige Umstellung – nicht nur für sie und ihren Mann, sondern auch für die Kinder. Häufig saß sie nun als Berufsschülerin gemeinsam mit ihren Söhnen und Töchtern am heimischen Küchentisch, alle die Hefte und Schulbücher vor sich. „Da konnten wir uns gegenseitig motivieren“, lacht Leer, für die gerade die naturwissenschaftlichen Fächer Chemie und Biologie eine Herausforderung darstellten. „Man merkte schon, dass mein letzter Schulbesuch eine Weile her war“, sagt sie schmunzelnd. Wenn es gar nicht lief, bekam sie zusätzlich Hilfe von ihren Mit-Azubis, die fast alle ihre Kinder hätten sein können. Am Ende schloss die Spätberufene ihre Ausbildung unter den Besten ab. Leer ist froh, dass sie den Schritt gewagt hat – nicht nur für sie selbst bedeute das viel: „Meine Kinder sind sehr stolz auf mich und erzählen im Freundeskreis sehr gerne, dass ich noch mal eine Ausbildung gemacht habe.“

Andreas Pinosa ist Oberarzt in der Notaufnahme.

Der Underdog

Andreas Pinosas Bildungsweg begann holprig. Fast vom ersten Schultag an, so erinnert sich der heute 38-Jährige, fühlte er sich vom Unterricht gelangweilt. Statt dem Lehrer zuzuhören, schaute er aus dem Fenster, träumte vor sich hin. Am Nachmittag konnte er sich nur schwer zum Lernen überwinden, viel lieber war er draußen im Wald unterwegs. Als nach der 4. Klasse der Übergang zur weiterführenden Schule anstand, empfahlen ihm die Lehrer wegen seiner schlechten Noten den Besuch der Hauptschule. Seine Eltern, die beide keine akademische Ausbildung haben, folgen diesem Rat. „Meine Mutter und mein Vater waren nicht enttäuscht, sie machten mir keinen Druck. Aber ich wusste, dass es der Wunsch meiner Mutter war, dass ich irgendwann eine kaufmännische Ausbildung absolviere, im Büro oder bei der Bank.“

Portrait von Andreas Pinosa

„Die Leute sind überrascht, dass ich früher auf der Hauptschule war.“

Andreas Pinosa (38),
Oberarzt am Klinikum Landshut

Zunächst schien es, als sei der berufliche Werdegang des gebürtigen Bayern festgelegt, doch es sollte anders kommen, denn der neu eingeführte Englischunterricht erzeugte bei dem Zehnjährigen das erste Mal ein echtes Interesse. Das Lernen einer neuen Sprache begeisterte ihn, sein Ehrgeiz war geweckt. Und er fasste Vertrauen zu seiner Lehrerin, die ihn ermunterte und ihm aufzeigte, welche Zukunftsaussichten er mit einem besseren Schulabschluss haben würde. Dass jemand ihm mehr zutraute, als er sich selbst, war die Initialzündung, die es gebraucht hatte, glaubt ­Andreas ­Pinosa heute. Er strengte sich an und schaffte nach der 6. Klasse den Sprung auf die Realschule. Doch schon nach wenigen Monaten fiel er zurück in alte Muster.

Nur sechs Monate nach dem Schulwechsel schickten ihn die Lehrer wegen mangelnder Leistung zurück auf die Hauptschule. „Das war ein echter Schlag ins Gesicht“, sagt er im Rückblick, „aber ich war selbst schuld. Mir war – typisch Teenager – alles wichtiger als die Schule.“ Noch enttäuschter als er selbst war seine alte Englischlehrerin. Als Pinosa erkannte, dass er seine Chance beinahe verspielt hatte, startete er noch einmal durch. Er wurde Klassenbester und schaffte seinen qualifizierten Hauptschulabschluss mit einem Notendurchschnitt von 1,3. Der Knoten war geplatzt. ­Pinosa wechselte in den kaufmännischen Zweig der Wirtschaftsschule, der innerhalb von zwei Jahren zur Mittleren Reife führte. Mit einem Notendurchschnitt von 1,1 hatte er keine Probleme, einen Ausbildungsplatz zu finden. „Damals erfüllte sich der Traum meiner Mutter: Ich wurde Bankkaufmann“, lacht ­Pinosa.

Dr. Pinosa im Austausch mit einem Kollegen.

Die lang erhoffte Stelle war jedoch nicht das Ende seiner Bildungsreise. Schnell merkte ­Pinosa, dass die Arbeit in der Bank nicht das war, was er wollte  – er verkürzte auf zwei Jahre und nutzte seinen Abschluss als Sprungbrett. Dieser ermöglichte ihm den Zugang zur Berufsoberschule (BOS), wo er das Abitur nachholen konnte – mit einem Durchschnitt von 1,1 als Schulbester. Nun stehen ­Pinosa alle Türen offen: Er, der seinen Mitschülern in der Oberstufe ­häufig Nachhilfe gegeben hat, spielt mit dem Gedanken an ein Lehramtsstudium. „Auch Wirtschaftspädagogik oder BWL schienen mir naheliegend“, erzählt er. Doch dann hört er tiefer in sich hinein.

Er hat so lange für den erfolgreichen Bildungsweg gekämpft, jetzt will er alles richtig machen und keine übereilten Entscheidungen treffen. „Ich habe mich intensiv gefragt: Macht mich diese Fachwahl glücklich?“ ­Pinosa glaubt: Nein. Also steckt er sich ein noch höheres Ziel. Am Tag der offenen Tür der Münchener Ludwig-­Maximilians-Universität hatte er eine Vorlesung im Fach Medizin gehört. Die Atmosphäre, der Vortrag und die Art des Professors hatten ­Pinosa begeistert. Also macht er ein Praktikum als Pfleger im Krankenhaus. Danach weiß er: Das ist es, der Umgang mit den Menschen ist das, was ihm am meisten liegt. Tatsächlich erhält er dank seines sehr guten Abiturs einen der begehrten Studienplätze für Medizin. „Das Studium war dann hart“, sagt ­Pinosa, „viel schwieriger, als ich es mir ausgemalt hatte.“

Doch Pinosa ist Herausforderungen gewohnt. Sie treiben ihn an. 2013 schließt er das Medizinstudium erfolgreich ab und geht als Assistenzarzt ans Klinikum in Erding. Heute, zehn Jahre später, ist er Oberarzt der Gastroenterologie. Endlich fühlt er sich wirklich angekommen in der Arbeitswelt.

Und seine Lehrerin von damals? „Sie weiß von meinem Werdegang, denn sie wohnt im gleichen Dorf wie meine Eltern.“ Ohne sie, ist ­Andreas ­Pinosa sicher, hätte sein beruflicher Weg nicht zu seinem heutigen Traumjob geführt. „Sie hat mir rechtzeitig die Augen geöffnet und gezeigt, was man erreichen kann, wenn man es wirklich will. Der Bildungsweg ist keine Einbahnstraße, man kann fast immer die Richtung wechseln.“

„Weiterbildung wird in unserer sehr dynamischen Arbeitswelt immer wichtiger.“

Basha Vicari,
Arbeitsmarktforscherin

Hans-Joachim Berger, Zugbegleiter bei DB-Regio.

Der Flexible

Hans-Joachim Berger hat in seinem Leben schon vieles gemacht. Er war Bankkaufmann, Gastronom und Unternehmer. Und dann, in einem Alter, in dem andere schon langsam an die Rente denken, wurde er Zugbegleiter bei der Deutschen Bahn. Aber zurück zum Anfang: ­Berger stammt aus dem Ruhrgebiet, wo er mit 19 Jahren sein Abitur machte. Er träumte von einer Ausbildung zum Kfz-Mechaniker und einem anschließenden Studium im Bereich Fahrzeugtechnik, doch sein Vater winkte ab. Etwas Solides sollte es sein und so ließ sich Berger von seinen Eltern überreden und zum Bankkaufmann ausbilden.

Doch relativ schnell stellte er fest, dass der Beruf nicht zu seiner Persönlichkeit passte. So begann er nebenher in der Gastronomie zu jobben und merkte: „Hier ist mein Herz zu Hause“ – der Umgang mit Menschen jeglicher Couleur faszinierte ihn. Und so zögerte ­Berger nicht lange, als ihn eine Freundin fragte, ob er nicht die Leitung eines ihrer Restaurants übernehmen wolle. ­Berger sagte zu. Es war der Beginn einer Reise durch die Gastro-Szene, bei der er sich Stück für Stück nach oben arbeitete und bei jeder Position mehr Verantwortung erhielt.

Portrait von Hans-Joachim Berger

„Für mich war beruflicher Stillstand nie eine Option.“

Hans-Joachim Berger (60),
Zugbegleiter bei der Deutschen Bahn

Die Begegnung mit Menschen macht Berger glücklich.

1999 wurde er schließlich Leiter der Gastronomie eines Casinos in Aachen und arbeitete in dieser Position 15 Jahre lang. Eine Traumstelle für den heute 60-Jährigen. 2014 jedoch war der Traum vorbei. Das Casino musste geschlossen werden, es rechnete sich nicht mehr. ­Berger, damals Anfang 50, erhielt eine Abfindung – und war erst einmal arbeitslos. „Die Summe war anständig, aber bis zur Rente hätte das Geld nicht gereicht“, schmunzelt er. Und noch etwas sprach dafür, noch einmal von vorne zu beginnen: „Ich bin kein Mensch, der gerne die Hände in den Schoß legt, beruflicher Stillstand ist und war für mich nie eine Option.“

Also sagt er sofort zu, als ihn die Agentur für Arbeit auf die Möglichkeit aufmerksam machte, eine Ausbildung zum Zugbegleiter zu absolvieren. Reizvoll fand er dabei vor allem den Kontakt zu den Fahrgästen. „Das Interesse an anderen Menschen zieht sich wie ein roter Faden durch meinen Lebenslauf.“ Vier Monate lang lernte Berger alles, was er für seine neue Tätigkeit braucht: An- und Durchsagen zu machen, Fahrausweise sowie die Sicherheit im Zug zu kontrollieren sowie die Behebung leichter technischer Defekte. Dann durfte er sich offiziell „Kundenbetreuer und Zugbegleiter im Nahverkehr“ nennen. Es war der Beginn eines neuen beruflichen Lebensabschnitts – mit Mitte 50.

Die Rente

Die Rente ist ein Spiegelbild der vorhergehenden Erwerbsbiografie. Darum zählen nicht nur die Arbeitsjahre als Grundlage für die Berechnung, sondern unter anderem auch freiwilliger Wehrdienst, Bundesfreiwilligendienst, Umschulungen, Kindererziehung, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Rehabilitation. Auch Zeiten des Schul- und Fachschulbesuchs können ab dem 17. Geburtstag als Anrechnungszeit anerkannt werden. Welche Höhe Ihre Rente haben wird, lässt sich mit dem Online-Rechner prüfen: t1p.de/BerechnungRente

Daten & Fakten: Bildung in Deutschland

66.000 Studierende ohne Abitur oder Fachhochschulreife im Jahr 2022: Das ist viermal mehr als noch im Jahr 2002.

So viel haben Unternehmen pro Mitarbeiter in Deutschland im Jahr im Schnitt in Weiterbildung investiert:

14,06 Millionen Deutsche halten es für wichtig und erstrebens­wert, in ihrem Leben immer Neues zu lernen.

Quelle: Statistisches Bundesamt 2022