Erziehungskritiker und Bildungsexperte Gerhard de Haan



„Entrümpelt die Lehrpläne!“

 

Gerhard de Haan leitet das Institut Futur des Arbeitsbereichs für Erziehungswissenschaftliche Zukunftsforschung, das zur Freien Universität Berlin gehört. 2014 wurde der pro­movierte Erziehungswissenschaftler für seine Verdienste in der Bildungsforschung mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

Herr de Haan, Sie sind Jahrgang 1951 – was ist Ihnen von Ihrer Schulzeit in Erinnerung geblieben?

Im Gedächtnis geblieben ist mir ein rigides Leistungssystem, speziell auf dem Gymnasium, wo ich den mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig besucht habe. Ich weiß noch genau, dass ich schon damals einige Inhalte der Lehrpläne als sehr überflüssig empfand.

Was hat sich seitdem geändert?

Ehrlich gesagt: Wesentliche Änderungen sehe ich nicht, die Verhältnisse sind fast gleich geblieben – zumindest in den Sekundarstufen I und II. Man hat immer noch die Stunden-Taktung, den Fächerkanon, sogar die Inhalte der Bücher sind teilweise die gleichen. Und auch die Unterrichtsform ist die gleiche.

Wie sieht die aus?

Die Lehrkraft stellt eine Frage und die Schülerinnen und Schüler tasten sich ratenderweise langsam an die Lösung heran. Das ist zäh und langwierig und nicht gerade erhellend für die meisten Menschen. Dabei wird vor allem totes Wissen vermittelt. Das Pauken von Fakten und Regeln steht nach wie vor im Mittelpunkt. 

Wie könnte man es besser machen?

Nehmen wir Finnland als Beispiel. Die stellen gerade um von klassischem Unterricht auf sogenannten Phänomen-Unterricht, wir würden es wohl Projektunterricht nennen. Warum? Weil die Politik erkannt hat, dass sie die Schüler mit dem bisherigen Unterrichtsmodell nicht mehr erreichen kann. Die Welt hat sich geändert. In den 1950er-Jahren stand über so manchem Schultor noch: „Die Schule ist das Tor zur Welt“. Da würde man heute nur noch drüber lachen. Das Tor zur Welt sind heute die Massenmedien. Dort holen sich nicht nur Schüler, sondern wir alle unsere Informationen.

Was bedeutet das für die Schule?

Schulleitung und Kollegium müssen sich fragen: Was sind unsere neuen Aufgaben? Sind wir immer noch diejenigen, die bestimmen, wie und was die Schüler zu tun und zu lassen haben? Oder sind wir eher Moderatoren und Berater? Das heißt natürlich nicht, dass die Schüler machen können, was sie wollen, sondern dass Lehrer zu Hinweis­gebern werden, damit sie lernen, selbstständig auf Lösungen zu kommen.

Unser Unterricht ist also altmodisch?

Ja, leider. Und nicht nur die Art des Unterrichts. Auch die Inhalte sind nicht mehr akzeptabel. Die Lehrpläne müssen entrümpelt werden. Man muss als Lehrer viel mehr auf die Ideen und Interessen der Jugendlichen eingehen. Man muss sich anschauen: Was braucht man wirklich? Und die freien Stunden, die man dadurch gewinnt, sollte man in aktuelle Themen stecken. Eine Studie unter 2.000 Jugendlichen und 500 Lehrkräften hat ergeben, dass die meisten über Themen wie Nachhaltigkeit oder Klimawandel sprechen wollen, sie wünschen sich Dis­kussionen über Wertefragen und über Alltagsprobleme. So lernen Schüler, ihre eigene Meinung zu entwickeln und diese zu verteidigen. Partizipation ist ein ganz wichtiger Gedanke – und das Lernen in Projekten.

„Man muss als Lehrer viel mehr auf die Ideen der Jugend­lichen eingehen.“

Gerhard de Haan (72),
Bildungswissenschaftler

Man sollte die Schüler also zu mehr Selbst­ständigkeit erziehen?

Ja, nur so können sie es schaffen, Lösungskompetenzen zu entwickeln, und genau die brauchen sie doch auch für später – für die Ausbildung, das Studium, den Beruf. Und gleichzeitig lernen sie auch viel besser ihre eigenen Fähigkeiten und Schwächen kennen. Das hilft langfristig auch, den hohen Abbrecherquoten bei einer späteren Ausbildung oder dem Studium entgegenzuwirken, weil die Schüler eher wissen, was ihnen liegt. Um das zu gewährleisten, müssen wir den geschützten Raum der Schule verlassen und uns der Idee der „Bildungslandschaften“zuwenden.

Wie funktionieren denn Bildungslandschaften?

Man schaut, welche Institutionen in welcher Form Lerngelegenheiten bieten können. Das kann die Feuerwehr sein, deren Mitglieder Kindern erklären, was für chemische Prozesse auftreten, wenn man mit Wasser löscht, und welche beim Löschen mit Schaum. Oder man besucht einmal wöchentlich eine Theatergruppe und übt ein Stück zum Thema Fremdenfeindlichkeit ein. Oder die Klasse macht eine Tour auf den Spuren der Architektur der Stadt mit Unterstützung eines ortsansässigen Architektur­büros. Auch Kooperationen mit Ökozentren oder der Jugendfürsorge sind möglich.

Wie sollte Schule im Jahr 2045 aussehen?

Die Bildungseinrichtung Schule wird es noch geben, aber sie ist eher ein Ort, an dem man sich trifft und sich austauscht. Die Lehrer sind weniger Wissensvermittler, sondern mehr Berater, die den Kindern dabei helfen, ihre Richtung zu finden. Ich stelle mir eine Art großen Bildungscampus vor, auf dem Schüler individuell betreut werden und wo neue Leidenschaften entstehen können, während sie gleichzeitig ein festgelegtes Basiswissen vermittelt bekommen – immer in Zusammenarbeit mit anderen Bildungsträgern.