Blick in ein neues Leben

Fynn Trauernicht sitzt auf einem Stuhl vor einem großen, weißen Holzkasten. Es ist Dienstagvormittag, Zeit für das wöchentliche Gespräch mit seiner Ärztin. Claudia Schweighart legt Wert darauf, dass der Neunjährige versteht, was seine Diagnose ADS bedeutet. Sie greift zu einer eckigen Holzplatte mit großen, runden Löchern und setzt sie in den Kasten ein. „So funktioniert das Gehirn bei den meisten Menschen“, erklärt sie und lässt ein paar rote und grüne Kugeln über die Platte rollen. Die grünen Kugeln verschwinden sofort in den Löchern, die roten sind zu groß und bleiben auf der Platte liegen. „Die grünen Kugeln stehen für das, worauf wir uns konzentrieren wollen“, erklärt Dr. Schweighart. Den Unterrichtsstoff etwa. „Die roten sind Reize, die uns ablenken. Wie ein Handyklingeln.“ Ein gesundes Gehirn filtert die Störreize heraus. „Eines mit ADS lässt alles durch.“ Das Syndrom wird auch als "Träumerle-ADHS" bezeichnet. Meist zeigt es sich daran, dass die Kinder sich in Tagträumen verlieren, für Hausaufgaben sehr lange brauchen und Aufgaben wenig strukturiert angehen. Seit drei Wochen ist Fynn in der Fachklinik Wangen im Allgäu zu Gast. Der schlaksige Grundschüler macht hier eine Kinderrehabilitation, dabei begleitet ihn sein Vater Armin. Die beiden teilen sich ein Zimmer in der Klinik. Auch für den Vater ist das eine Auszeit: Denn eine Erkrankung des Kindes bedeutet auch Stress für die Eltern. Vor allem das Gefühl, dem eigenen Kind nicht wirklich helfen zu können, sei belastend, sagt er. Mehr als 30.000 Kinder machen deutschlandweit jedes Jahr eine Rehabilitation. Immer dann, wenn die Akutversorgung ausgeschöpft ist oder nicht den gewünschten Erfolg bringt, kann eine Reha sinnvoll sein. Wird ein Kind als reha-bedürftig angesehen, können der behandelnde Arzt und die Eltern bei der Deutschen Rentenversicherung oder ihrer gesetzlichen Krankenversicherung einen Antrag stellen. Warum das auch bei der Rentenversicherung möglich ist? „Unser Ziel ist es, die Menschen fit für den Arbeitsmarkt zu machen“, erklärt Gerd Markowetz, Sprecher der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg. Kinder, die chronisch krank sind, fehlten oft in der Schule, später in der Ausbildung und im Job und zahlen dann weniger in die gesetzliche Rentenversicherung ein. „Deshalb steuern wir schon bei den Kleinsten gegen“, so Markowetz. In Fynns Fall haben die Therapien schon erste Erfolge gezeigt. Sein Hals, der sonst oft rot ist und juckt, glänzt heute glatt und weiß. Auch heute steht wieder eine Neurodermitis-Schulung auf dem Programm, außerdem Ergotherapie, Sport und eine pädagogische Betreuungsgruppe. Meist geht Fynn dann noch bis zu vier Stunden täglich in die Schule, die sich ebenfalls auf dem Gelände befindet. „Lernen, Therapie und Spiel greifen hier eng ineinander“, erklärt Sportwissenschaftler Robert Jaeschke, der in Wangen die Therapieleitung innehat. Jaeschke ist es wichtig, dass in der Rehabilitation nicht nur körperliche Krankheiten behandelt werden. Denn oft gehen mit Asthma, Neurodermitis, Übergewicht oder ADHS auch psychische Probleme einher. Fynn kennt das: Blüht seine Neurodermitis auf, muss er sich von seinen Mitschülern blöde Sprüche anhören. „Das nervt mich dann immer richtig.“ Auch sonst bedeutet die Neurodermitis zusätzlichen Stress: Manchmal kann er nächtelang nicht schlafen, weil die Haut so juckt. Ein Stressfaktor, der sich bei Kindern auf die Noten auswirken kann. Bei Fynn sei das bisher nicht so, sagt sein Vater, zum Glück komme er gut mit. Aber ihm sei wichtig, dass sein Sohn früh lernt, mit seiner Krankheit umzugehen.

Robert Jaeschke, Therapieleiter

» Spiel, Lernen und Therapie greifen eng ineinander. «

Die eigene Krankheit verstehen

Hilfe zur Selbsthilfe – das ist auch der Ansatz in Wangen. Fynn ist beliebt und aufgeweckt, sagen die Therapeuten. Nur ein bisschen übereilig wirkt er manchmal. Zu Hause tut er sich schwer, die Hausaufgaben zu Ende zu machen, erzählt sein Vater. In der Ergotherapie beginnt er schon, hektisch Bauklötze aneinanderzureihen, bevor die Therapeutin die Aufgabe auch nur zu Ende erklärt hat. Fynn muss noch einmal von vorne anfangen. Eben darum geht es, erklärt die Therapeutin: Fynn soll lernen, strukturiert zu handeln. Ebenso wichtig wie das Verhaltenstraining ist jedoch, dass Fynn seine Krankheiten besser versteht. An diesem Dienstag steht deshalb eine Schulung zum Thema „Neurodermitis – Kratzalternativen“ auf dem Plan. Gleich zu Beginn zückt Lehrerin Mareke Extra einen großen Würfel. Es ist ein Modell der Haut. Fynn zählt ihre verschiedenen Bestandteile auf: Haare, Poren, Schweißdrüsen, Fettschicht. Bei Neurodermitikern arbeiten die Fettdrüsen nicht richtig, die Haut wird trocken und juckt. „Und das wollen wir nicht“, sagt Fynn und grinst. Frau Extra holt zwei Schwämme hervor. Fynn hat tags zuvor beide nass gemacht, dann einen eingecremt. Der Schwamm ohne Creme ist inzwischen getrocknet und spröde, der Schwamm mit Creme dagegen noch immer feucht und beweglich. „Die Creme sperrt die Feuchtigkeit in der Haut ein“, erklärt die Lehrerin. Danach überlegen beide, wo sich der Neurodermitis-Kreislauf unterbrechen lässt. „Beim Kratzen?“, fragt Fynn. „Richtig“, sagt Frau Extra. Stattdessen könne er sich ablenken, kühlen oder eincremen.
So gut eine Reha für das Kind sein mag: „Viele Eltern zögern, ihre Kinder eine Reha machen zu lassen“, weiß Gerd Markowetz. Zu groß sei die Angst, dass das Kind viel Stoff versäumen und in der Schule zurückfallen könnte. Eine Angst, die der Sprecher der Rentenversicherung Baden-Württemberg den Eltern gerne nehmen würde, denn in der Reha erhalten die Kinder Schulunterricht. Stefan Prändl, ein Mann mit graubraunen Haaren, Brille, sanftem Lächeln und einem noch sanfteren schwäbischen Singsang, leitet die Heinrich-Brügger-Schule in Wangen. Während Fynn mit seinem Vater im Klassenraum für Mathematik hinter einem hölzernen Kaufmannsladen verschwindet, erklärt der Schulleiter, worum es ihm geht. „Für viele der Kinder hier ist Schule wegen ihrer Krankheit zur Qual geworden“, sagt Prändl. „Wir wollen, dass sie wieder Freude am Lernen entwickeln.“ Aus dem Nebenzimmer klingt Fynns fröhliches Lachen.

Das Programm in der Kinderreha ist vielfältig. Mal steht Sport auf dem Programm, mal eine Neurodermitis- Schulung. Anhand eines Hautmodells erklärt Lehrerin Mareke Extra, wie Neurodermitis entsteht. Vater Armin ist immer dabei.

Nicht allein

Eine Kinderreha dauert mindestens vier Wochen. Die Deutsche Rentenversicherung übernimmt die Kosten für An- und Abreise, Behandlung und Unterbringung, sofern beispielsweise eines der Elternteile seit fünf Jahren regelmäßig in die Rentenversicherung einzahlt. Je nach Fall können bei Kindern bis zwölf Jahren auch die Kosten für eine Begleitperson übernommen werden.