Grillpartys und Kuchen gehören zum Leben dazu“, sagt Peter Everding schmunzelnd. „Alles andere ist realitätsfern. Wichtig ist es, seine Ernährung danach wieder anzupassen.“ Der Münsterländer ist Oberarzt für Innere und Allgemeinmedizin und Diabetologe in der Klinik Teutoburger Wald, einer Rehaklinik der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover in Bad Rothenfelde. Sein Behandlungsschwerpunkt ist die drittgradige Adipositas – eine ernste Erkrankung, die das Risiko für Folgeschäden stark erhöht.
„In unserer Klinik sind Rehabilitanden mit einem Body-Mass-Index von 50, 60 oder sogar 70 keine Seltenheit. Diese Menschen haben einen Leidensweg hinter sich, sind mit Vorurteilen konfrontiert und stehen ihrer Krankheit viel zu oft hilflos gegenüber“, erklärt Peter Everding, während er die Blutbilder eines Rehabilitanden überprüft. Für ihn sei es ein besonderer Vorteil, dass sie sich in der Klinik für jeden Zeit nehmen könnten. „Ohne eine ordentliche Beleuchtung der Essgewohnheiten, Grunderkrankungen und Lebensumstände ist eine erfolgreiche Therapie nicht möglich. In einer Ernährungsanamnese klären wir all diese Fragen.“
„Mein Ziel ist es, den Kopf umzustellen.“
Susanne Schäfer,
Rehabilitandin in der Klinik Teutoburger Wald
Im Ernährungs-Dschungel
Menschen mit Gewichtsproblemen stehen in Bezug auf die Ernährung vor einem kaum überwindbaren Hindernis. „Die Ernährungsmedizin ist ein Dschungel, der Menschen schnell verunsichert. Und wo Menschen verunsichert sind, lauern unseriöse Anbieter“, berichtet der Diabetologe und wird für einen Moment ungehalten. Vermeintliche Wunderpillen zu horrenden Preisen seien oftmals ein Problem. „Unsere Aufgabe ist es, die Rehabilitanden medikamentös bestmöglich einzustellen“, sagt er energisch. „Dabei kommt es auch darauf an, die oftmals vielfältigen Folgeerkrankungen zu berücksichtigen.“
Der 53-Jährige hat zusätzlich zum Diabetologen die Fortbildung zum Adiposiologen absolviert, um fachlich am Puls der Zeit zu bleiben. „Wir haben hier eine Vorbild- und Lotsenfunktion. Den Weg zur Lifestyle-Änderung, den gehen wir mit den Rehabilitanden gemeinsam.“ Ein wichtiger Baustein dafür ist die Ernährung. Das Küchenteam lebt das Prinzip der „Frischeküche“: keine Geschmacksverstärker, frische und regionale Zutaten. Drei Gerichte stehen täglich zur Auswahl, eines davon ist vegetarisch. „Wir predigen keine Askese und wir haben keine Verbotskultur. Jeder bedient sich eigenverantwortlich und probiert aus, was zu ihm passt“, sagt Peter Everding und entscheidet sich für Lachs mit Rahmwirsing.
Wer mit drittgradiger Adipositas zu kämpfen hat, ist oft in seinem Bewegungsradius eingeschränkt. Dazu kommen Scham und sozialer Rückzug, was wiederum zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandesführt. Diesem Teufelskreis will Peter Everding mit dem Wohlfühlfaktor die Kraft entziehen:„Es muss sich niemand hier im Haus genieren oder verstecken, denn man ist unter Gleichgesinnten.“
Ein besonderes Merkmal besitzt die Rehaklinik mit ihren „Big Zimmern“. Diese sind mit ebenerdigen Duschen, gemütlichen Sitzmöbeln und Betten ausgestattet, die einer Belastung von bis zu 250 Kilogramm standhalten können. „Adipositas ist mittlerweile eine Volkskrankheit. Wir haben schon von 20 auf 32 Zimmer aufgestockt und können immer noch nicht alle Anfragen bedienen. Die bekommen wir aus ganz Deutschland“, berichtet der Oberarzt. Das liege vor allem an den Therapie- und Unterbringungsmöglichkeiten. „Das können andere Kliniken oft nicht leisten. Wir fangen da an, wo andere aufhören. Natürlich muss aber eine ausreichende Mobilität gewährleistet sein – sonst nutzt die beste Reha nichts.“
Zu den Therapien gehört unter anderem die verhaltensmedizinisch orientierte Rehabilitation, kurz VOR. Diese beinhaltet Bewegungs- und Psychotherapie und wird für übergewichtige Rehabilitanden mit psychischen Erkrankungen angeboten. „Die Adipositas sollte nie losgelöst von der Psyche betrachtet werden“, lautet Peter Everdings Grundsatz. „Auch sollte niemand von null auf hundert gehen, schon gar nicht im Sport. Ein Trainingsprogramm sollte immer mit einem Arzt abgesprochen und an die Krankheit angepasst werden.“
„Wir haben hier eine Vorbild- und Lotsenfunktion.“
Peter Everding,
Oberarzt in der Klinik Teutoburger Wald
Individuelles Ergometer-Training
Wie das geht, zeigt er im Sportraum, wo gerade eine Gruppe auf speziellen Ergometern in die Pedale tritt. Eine Physiotherapeutin beobachtet an einem Bildschirm die Puls- und Herzfrequenzen der Rehabilitanden. Diese geben Rückmeldung über den Schwierigkeitsgrad: Für wen das Training zu schwer war, für den wird das Pensum heruntergeregelt. Wer sich unterfordert fühlt, darf sich beim nächsten Training an einem schwierigeren Level testen. „Wir errechnen per Belastungs-EKG zu Reha-Beginn den individuellen Trainingspuls. Das ist die Frequenz, in der der Rehabilitand am besten trainieren kann“, erläutert Peter Everding das Vorgehen, bevor er sich auf den Weg zum nächsten Termin macht.
Susanne Schäfer hat ihr Ergometer-Training schon hinter sich und wirkt sehr zufrieden. Trotz erhöhtem BMI und Lymphödem lässt sich die 50-Jährige nicht unterkriegen. „Ich habe mir gedacht: Abnehmen ist etwas, was ich für mich tun kann. Und dann gucke ich, wie weit ich komme.“ Es ist ihre erste Rehabilitation – trotzdem macht sie sich keinen Druck. „Abnehmen ist für mich hier nicht das erste Ziel. Mein Ziel ist es, den Kopf umzustellen“, erklärt sie.
Gemeinsam mit Peter Everding geht sie ihre Werte durch und bespricht noch ein paar offene Fragen. Ihr Fazit: „Ich fühle mich gut gerüstet für die Zukunft.“ Das Ziel ist für die gebürtige Holzminderin klar: Sie will in ihren alten Beruf zurück. Auf Nachfrage antwortet Susanne Schäfer in schelmischem Ton: „Ich will meinen Harry wieder fahren.“ Und wer ist Harry? „Mein 40-Tonner. Ich bin LKW-Fahrerin im Nahverkehr.“ Dabei strahlt sie.
Nach dem Termin stibitzt Peter Everding noch einen Keks vom Teller, fährt den PC herunter und macht sich auf den Weg zum Sport.