Schuhmachers Familien-Kolumne

Meine Frau grinst immer ein wenig gehässig, wenn ich mich gelegentlich, wirklich nicht oft, jedenfalls nicht täglich, vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer inspiziere. Gedämpftes Licht und fortgeschrittene Fehlsichtigkeit mildern meine Verzweiflung – an guten Tagen. An schlechten sagt meine Frau: „Ich liebe dich, auch wenn du alt wirst.“ Eine nett gemeinte Hinrichtung. Alt? Ich? Quatsch. Alt sind nur die anderen, ich bin ein Mann in den besten Jahren. Was leider auch nur eine Chiffre ist für Verfall, Inkontinenz, Rollator. Die Angst vor dem Alter sei schlimmer als das Altern selbst, warnen Gerontologen. „Das Alter entgiften“, hat der selige Frank Schirrmacher in seinem Bestseller „Das Methusalem-Komplott“ gefordert. Entgiften, das hat mit Aufbruch zu tun, mit fröhlichem Weitermachen. Aber wie geht das – Alters-Detox? Die Küchenpsychologin aus der Frauenzeitschrift rät zum aktiven Selbstbild. Wie geht das? Ganz einfach: Ich werde nicht passiv gealtert vom Leben, sondern gestalte meine Restlaufzeit, wenigstens dort, wo ich noch Einfluss darauf habe. Mühsam, aber wahr: Wir sind die Chefs unseres eigenen Lebens, verantwortlich für unsere Gedanken, unsere Sprache, unsere Neugier und unsere Bereitschaft zum Miteinander. Hier schlummern wertvolle wie kostenlose mentale Zusatzrenten, die wir ohne Nebenwirkungen jederzeit positiv aktivieren können. Ein gutes Wort, eine schöne Erfahrung haben bereits die Kraft, unser neuronales System zu befeuern. Fortschritt, Heilung, Wachstum sind in jeder Lebensphase möglich – nur vor demSpiegel nicht, wenn die Panik wieder angekrochen kommt.
Eine Langzeitstudie vom University College London zeigt, dass positiv gestimmte Senioren langsamer körperlich abbauen. Manch fidele 90-Jährige wirkt nicht deswegen lebendiger als trübsinnige Mittfünfziger, weil sie bessere Gene hat, sondern wegen einer gesünderen Haltung zum Leben. Wer Alterspanik schiebt, der kauft sich keine Langspielplatte mehr – lohnt sich ja eh nicht. Wer dagegen an morgen glaubt, der lernt mit 85 Fechten und fährt mit 100 Rad. So wie die Französin Jeanne Calment, die 1896 im Alter von 21 mit dem Rauchen anfing. Sie wurde 122 Jahre alt. Knoblauch, Olivenöl, Portwein, so lautete ihr Altersrezept. Und nicht so viel grübeln. Neulich hat meine Frau mir ein türgroßes Poster vom jungen David Bowie mitgebracht und auf den großen Spiegel geklebt. „Was geht, Alter?“, scheint mich mein unfassbar vitales Idol aus Jugendtagen zu fragen, wann immer ich mich wieder vor dem großen Spiegel verrenke. Das weiß ich nicht so ganz genau. Aber auf jeden Fall mehr als vorher.

Dr. Hajo Schumacher, 53, ist Journalist und Buchautor. In seinem Bestseller „Restlaufzeit“ schildert er ungewöhnliche Seniorenprojekte. In „Solange Du Deine Füße auf meinen Tisch legst“ beschreibt er sein „schrecklich lustiges Leben als Vater“ (Eichborn, 2017). Schumacher lebt mit seiner Familie in Berlin.