Seid mal erwachsen!

Ein heißer Tag an einem Ferienort an der deutschen Ostsee im Juli. Ein vielleicht sechs Jahre altes Mädchen und seine Eltern gönnen sich ein Eis. Und der Dackel der Familie? Hechelt mit lang ausgestreckter Zunge, weil das Mädchen nicht bemerkt, dass sie seine Leine so kurz hält, dass er sich nicht in den Schatten stellen kann. Bevor ich etwas sagen kann, reagiert die Mutter – mit einem Vorschlag: „Vielleicht wäre es besser, wenn Fiffi etwas aus der Sonne käme?“ Ein Erwachsener hätte erkannt, dass der Vorschlag natürlich keiner war, sondern eine höflich verpackte Aufforderung. Doch ein sechsjähriges Mädchen kennt solche Höflichkeitsfloskeln nicht und reagiert entsprechend: Erst nach einigem Grübeln bugsiert sie Fiffi in den Schatten. Und als sie ihn nur eine Minute später gedankenverloren wieder in die pralle Sonne hineinzieht, sagt die Mutter – nichts mehr. Ganz so, wie man einen Erwachsenen, der einer höflichen Bitte nicht nachkommt, oft kein zweites Mal bittet. Weil man denkt: „Dann eben nicht. Deine Entscheidung. Ich kann dir ja nichts vorschreiben.“ Doch genau das wäre hier die Aufgabe der Eltern gewesen: ihrem Kind etwas vorzuschreiben. In unserer Gesellschaft sind die Grenzen zwischen Jung und Alt nicht so starr wie früher. Die Regeln, was man in einem bestimmten Alter tun sollte und was nicht, sind heute weniger klar. Das ist erst mal eine gute Sache. Aber niemandem ist ein Gefallen getan, wenn wir uns deswegen so verhalten, als gäbe es keine Generationen mehr, als sprächen wir alle miteinander von gleich zu gleich. Das gilt auch, wenn Erwachsene meinen, sich wie Twens verhalten zu müssen. So wie ein 50-jähriger Bekannter, der irgendwann begann, als Berater für Gründer zu arbeiten. Plötzlich sah ich ihn nicht mehr in Sakkos, sondern nur noch mit Kapuzenpulli und Hipster-Bart. Geschmackssache, sicher. Aber die Kleidung stand für eine Aussage: „Ich bin so wie ihr.“ Das aber ist nicht Augenhöhe, sondern Anbiederung. Mein Bekannter streute jetzt immer häufiger echten oder vermeintlichen Jugendslang in seine Sprache ein, gern auch ein paar Kraftausdrücke. Und er duzte nun ausnahmslos jeden – ohne zu bemerken, dass seine Kunden dies nicht taten. Denn warum engagierten sie ihn denn überhaupt? Wegen seines Erfahrungsschatzes, wegen seines langjährigen Wissens, letztlich also: weil er einer anderen Altersgruppe angehört. Aus demselben Grund können übrigens auch Eltern leisten, was Kinder noch nicht selbst können: Sie können sie ernähren, beschützen und erziehen. Oder ihnen einfach mal klar sagen: „Fiffi muss aus der Sonne. Jetzt. Und zwar sofort!“

Claus Hornung ist freier Journalist, Autor und Trainer. Seine Eltern erklärten ihm ihre Entscheidungen. Und sie mischten sich nie unter seine Freunde, wenn er in ihrem Haus eine Party feierte. Für beides ist er ihnen bis heute dankbar.