Die Kita im Seniorenheim: Die Kleinen profitieren von der Lebenserfahrung der Rentner, und die Älteren leben auf.
Die Kita im Seniorenheim: Die Kleinen profitieren von der Lebenserfahrung der Rentner, und die Älteren leben auf.



Nie mehr allein

Die Oma im Hinterhof, nach vorne raus die Eltern im erwerbsfähigen Alter, und im ausgebauten Dachgeschoss die groß gewordenen Kinder – früher war es selbstverständlich, dass mehrere Generationen gemeinsam unter einem Dach leben. Heute jedoch ist so etwas selten geworden. Immer mehr Deutsche leben allein. Wie aus dem Zensus des Statistischen Bundesamts hervorgeht, galt das zuletzt für jeden Fünften. Die einen wollen es so, die anderen leiden unter der Einsamkeit. Als das Meinungsforschungsinstitut YouGov vor zwei Jahren 2.000 Bundesbürger dazu befragte, gaben 44 Prozent an, gern mit mehreren Generationen zusammenzuleben. Tatsächlich gab es noch nie so viele verschiedene Möglichkeiten, gemeinsam zu leben wie heute. ZUKUNFT JETZT stellt fünf Formen des Zusammenlebens vor.

1. Hamburg: Kinder ins Altenheim

An einem niedrigen Holztisch sitzen kleine Kinder mit bunten Schürzen, vor ihnen stehen große Plastikschüsseln mit Obst und Töpfe, gefüllt mit Wasser. Zwischen den Kindern sitzen „Oma Anneliese“, „Oma Ursula“ und „Oma Franziska“ und schälen Äpfel. Die Kinder schauen gespannt zu, dann nehmen sie die Äpfel und schneiden sie in kleine Stücke. Enkel und Großeltern sind sie nicht und doch leben sie hier gemeinsam. Hier, in der Einrichtung „Pflegen & Wohnen Farmsen“ in Hamburg, sind seit vielen Jahrzehnten Senioren zu Hause – und seit Oktober 2010 auch Kleinkinder der Kindertagesstätte Farmsen. 155 Kinder im Alter von acht Wochen bis sechs Jahren werden im gleichen Gebäude betreut wie 220 Senioren. „Alt und Jung gemeinsam“ heißt das Projekt, das Senioren und Kleinkinder unter einem Dach vereint. Ziel ist der rege Austausch zwischen den Generationen. Dreimal in der Woche treffen sie sich, um gemeinsam zu kochen, zu basteln, zu singen, um sich gegenseitig vorzulesen und voneinander zu lernen. Ein Gewinn für beide Seiten: „Die Kinder profitieren von der Lebenserfahrung der Älteren, die Senioren leben auf“, sagt Astrid Kühnel, die Projektbeauftragte. „Die Kinder wecken die Lebensgeister der Senioren und halten sie jung. Das hat auch einen positiven Effekt auf den Organismus.“

2. Von der Geburt bis zum Tod: Mehrgenerationenhaus Kassel

Es klingt nach Behördensprech, spießig und wenig verlockend: Mehrgenerationenhaus. Dabei ist das Modell alles andere als langweilig. In den Häusern geht es locker zu, Alt und Jung treffen sich hier, um zu plaudern, Vokabeln zu lernen, Karten zu spielen oder um sich gegenseitig zu helfen. Ein nachbarschaftliches und liebevolles Miteinander in Zeiten, in denen die Familienstrukturen immer weiter auseinanderbrechen. Das war der Plan der damaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen, als sie das Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser im Jahr 2006 startete. Heute nehmen bundesweit rund 550 Häuser aus jedem Landkreis, jeder kreisfreien Stadt am Bundesprogramm teil. Manche haben sich neu gegründet, andere gingen aus bestehenden Stadtteil, Mütter- oder Seniorentreffs hervor. So wie das Mehrgenerationenhaus Heilhaus Kassel. Das Heilhaus gilt schon seit 27 Jahren als Treffpunkt für alle Generationen. Hierher kommt, wer sein Kind zur Welt bringen will, wer krank ist oder sich in einer seelischen Krise befindet. Auch das Sterben gehört im Heilhaus dazu: Im März 2016 eröffnete das Heilhaus das erste Mehrgenerationenhospiz in Deutschland. Schwer kranke und sterbende Kinder, Jugendliche und Erwachsene werden hier begleitet – gemeinsam. Kranke, die ins Hospiz einziehen, werden „Gäste“ genannt. Die Zimmer tragen die Namen von Blumen wie Osterglocke oder Veilchen und werden je nach Alter und Bedürfnissen der Gäste eingerichtet. „Wir begleiten die schwer kranken Kinder und Sterbende mit ihren Familien und helfen dabei, das Kranksein und den Tod als Teil des Lebens anzunehmen, Augenblicke der Freude ebenso wie Zeiten des Traurigseins zu erleben, Erfahrungen des Schmerzes gemeinsam zu tragen – und dadurch Trost und Geborgenheit zu erfahren“, sagt Ursa Paul, Gründerin des Heilhauses. 71 Erwachsene und etwa halb so viele Kinder wurden im Mehrgenerationenhospiz seit der Eröffnung begleitet. Die Jüngsten waren vier Monate alt, die Ältesten 97 Jahre.

Mehrgenerationenhaus: Zurück zum natürlichen Miteinander von Alt und Jung.

3. Ort des Vergessens: Das Demenzdorf Tönebön am See

Demenz – unberechenbar, unheilbar. Wer versucht, die Krankheit aufzuhalten, scheitert. Garantiert. Der Prozess des Vergessens ist nicht zu stoppen. Nach und nach verlieren Angehörige den Kontakt zu einem geliebten Menschen. Ein schmerzhafter Abschied, dem sich immer mehr Menschen stellen müssen. 1,55 Millionen Menschen in Deutschland sind dement. Bis 2050 sollen es doppelt soviele werden. Seit März 2014 gibt es nun das erste Demenzdorf Deutschlands. Es liegt am Stadtrand von Hameln, in Tönebön am See. Bis zu 52 Demenzkranke wohnen hier auf einem Gelände, fast so groß wie vier Fußballfelder. Auf den ersten Blick erinnert alles an ein typisches Dorf: Supermarkt, Friseur, ein Marktplatz mit Brunnen und Café, eingebettet zwischen Obstbäumen, Blumenbeeten, Holzbänken und gepflasterten Wegen. Darum herum stehen vier Wohnhäuser: Villa Ziegelhof, Villa Hastebach, Villa am See und Villa Reiterhof. In jedem Haus wohnen bis zu 13 Demenzkranke, jeder Bewohner hat sein eigenes Zimmer mit Badezimmer und Dusche, alles ist ebenerdig und rollstuhlgerecht, alle Türen unverschlossen, die Bewohner sollen sich wie zu Hause fühlen. Sie stehen auf, wann sie wollen, planen ihren Tag selbst, kaufen im Minimarkt ein, gehen im Garten spazieren oder kochen gemeinsam Mittag in einer der vier Hausgemeinschaften. Und doch ist Tönebön am See kein normales Dorf. Das zeigt allein der schulterhohe Zaun, der das Grundstück umgibt und der eine hitzige Debatte auslöste. Kritiker empören sich, dass Menschen mit Demenz einfach weggesperrt würden. „Wir schaffen am Rande von Städten geschlossene Einrichtungen, mit Zaun drum, und betreuen sie dort“, kritisiert Peter Wißmann, Leiter des Demenz Support Stuttgart. Damit seien sie „hart gesagt, erst mal aus den Augen, aus dem Sinn“. Befürworter halten dagegen, dass der Zaun für Angehörige und Demenzkranke vor allem eins bedeutet: Sicherheit und Bewegungsfreiheit. Sie können ihren Alltag selbst gestalten, essen und trinken, wo sie wollen, spazieren gehen, ohne sich zu verirren oder von Autos angefahren zu werden.

Demenzdörfer: In einem gesicherten Umfeld können Demenzkranke selbstbestimmter leben.

4. Studenten und Senioren gemeinsam in einer WG

Die einen suchen verzweifelt nach einem WG-Zimmer, die anderen leben allein in einer viel zu großen Wohnung und wissen nicht, wie lange sie den Haushalt ohne Hilfe noch bewältigen können. Seit einigen Jahren hat sich ein Projekt in Deutschland etabliert, das Studenten auf Zimmersuche und Senioren mit Platz zusammenbringt. Es heißt „Wohnen für Hilfe“: Hilfebedürftige Senioren, Menschen mit Behinderung oder Alleinerziehende bieten Studierenden ein Zimmer in ihrem Haus oder in ihrer Wohnung an, dafür übernimmt der Studierende Arbeiten im Alltag. Als Faustregel gilt: Pro Quadratmeter eine Stunde Hilfe pro Monat. Staub saugen, Rasen mähen, einkaufen, mit dem Hund spazieren gehen oder mit den Senioren zum Arzt fahren – was genau zu tun ist, wird vorher besprochen und in einem Vertrag geregelt. Der Vorteil für Studierende: Sie zahlen weniger Miete oder wohnen komplett umsonst – einzig Nebenkosten wie Gas, Wasser und Strom müssen immer bezahlt werden. Der Vorteil für Senioren: Sie sind nicht mehr allein und bekommen Unterstützung. Die Initiative „Wohnen für Hilfe“ gibt es in mehr als 35 Städten, Tendenz steigend. Vor allem in großen Universitätsstädten wie Frankfurt oder Kiel, in denen Wohnraum knapp und teuer ist, haben sich die Zweck-Wohngemeinschaften bewährt. Die Nachfrage ist groß, manchmal sogar zu groß: „Wir haben acht- bis zehnmal so viele Bewerber wie Plätze“, sagte Brigitte Tauer vom Seniorentreff Neuhausen der Süddeutschen Zeitung. Der Seniorentreff kümmert sich im Raum München um alternative Wohngemeinschaften. Auch die Studentenwerke in den Städten kümmern sich um die Vermittlung von Alt und Jung. Vermieter und Wohnungssuchende füllen vorher einen Fragebogen aus und machen Angaben zu ihrer individuellen Situation und ihren Wünschen. Auf dieser Grundlage werden passende WG-Partner vermittelt. Auch im Internet auf WG-gesucht.de kann man aktiv nach Wohngemeinschaften des Projekts suchen.

Studenten-Senioren-WG: Pro Quadratmeter Wohnraum eine Stunde Hilfe im Haushalt, so geht die Faustregel.

5. Wenn Wunschenkel auf Teilzeitgroßeltern treffen

Kitaplätze sind schwer zu bekommen, Mutter und Vater arbeiten in Vollzeit, die Großeltern sind bereits gestorben oder leben in einer anderen Stadt – wie wäre es da mit einer Leihoma oder einem Leihopa? Das Konzept ist in Deutschland so bekannt wie beliebt: Soziale Vereine bringen ältere Menschen mit „Wunschenkeln“ zusammen. Ähnlich wie echte Großeltern können Rentner auf diese Weise Familien unterstützen. Immerhin sind die Großeltern laut einer Statista-Umfrage von 2010 nach dem Kindergarten und den Eltern die beliebteste Form der Kinderbetreuung. Entsprechend erfolgreich ist das Konzept der geliehenen Großeltern; es ist inzwischen die häufigste Form der aktiven Kinderpatenschaft. Die Leihoma oder der Leihopa kümmern sich als ehrenamtliche Paten für ein paar Stunden in der Woche um das Kind, holen es aus dem Kindergarten oder der Schule ab, machen Hausaufgaben, lesen Geschichten vor, gehen mit dem Kind einkaufen, auf den Spielplatz oder machen andere Ausflüge. Dabei ist die Wahloma mehr als nur einBabysitter. Alle Generationen profitieren voneinander: Die Eltern werden entlastet, das Kind wird liebevoll und zuverlässig betreut, die Rentner bekommen Familienanschluss und die erfüllende Aufgabe, Oma oder Opa zu sein. Oft entsteht so ein freundschaftliches Betreuungsverhältnis, das über Jahre andauert. Die Zahl der Patenschaften in Deutschland steigt, immer mehr Eltern suchen Großelternpaten. Es gibt diverse Vermittlungsmöglichkeiten, ein verlässlicher Weg führt über nicht-kommerzielle, lokale Vermittlungsstellen. Sie bringen Leihomas und Leihopas mit suchenden Familien zusammen und begleiten die Patenschaft.

Der Leihopa: Großeltern auf Zeit entlasten Eltern, erfreuen Kinder und finden eine erfüllende Aufgabe.

Früh das Wohnen im Alter planen.

„Heute leben mehr Generationen gleichzeitig,weil wir immer älter werden. Früher waren Begegnungen zwischen Alt und Jung selbstverständlicher, die Menschen lebten in Großfamilien. Heute gibt es weniger Kinder und dadurch auch weniger Möglichkeiten, aufeinanderzutreffen. Schon deshalb sollte man früh darüber nachdenken, wie man im Alter leben will: Kann ich in meiner Wohnung bleiben? Ist sie altersgerecht? Wer im Alter nicht allein sein will, hat viele Möglichkeiten. Es gibt tolle Projekte wie die Generationsbrücke Deutschland, die regelmäßig Treffen zwischen Pflegeeinrichtungen, Kindergärten und Schulen organisieren. Auch Haus- und Wohngemeinschaften und Mehrgenerationenhäuser haben sich größtenteils bewährt.“

Die Expertin: Prof. Dr. Ursula Lehr. Die Psychologin ist Altersforscherin und ehemalige Bundesfamilienministerin.