Auf den ersten Blick ist nichts Besonderes an der Arztpraxis zu bemerken, in der Joachim Höfner an diesem Vormittag zur Sprechstunde bittet. Im ersten Stock in einem unscheinbaren Gebäude in BerlinWilmersdorf finden sich ein Empfangszimmer, ein Wartebereich und ein langer Flur mit rot-weiß gestrichenen Wänden, über den man zu den Behandlungsräumen gelangt. So weit, so normal, könnte man denken. Doch tatsächlich hebt sich die Praxis, in der Internist Joachim Höfner arbeitet, von anderen ab: Hier werden Menschen kostenfrei behandelt, die man an anderer Stelle zur Kasse bittet, weil sie keine Krankenversicherung haben. Rund 61.000 waren es im Jahr 2019 offiziellen Zahlen zufolge, und das, obwohl es in Deutschland seit 2009 eine Krankenversicherungspflicht gibt.
Die Praxis in Berlin-Wilmersdorf ist die größte der katholischen Hilfsorganisation Malteser in Deutschland für Nichtversicherte. An einem durchschnittlichen Tag kommen 30 bis 40 Patienten in die Praxis. Finanziert wird sie durch Spenden und vom Berliner Senat. Ursprünglich wurde sie für Migranten gegründet, mit den Jahren kamen allerdings immer mehr EU-Bürger und auch Deutsche zur Behandlung. Vor allem während der Corona-Krise ist ihr Anteil noch einmal gestiegen.
Der erste Patient, den Joachim Höfner an diesem Morgen empfängt, klagt über Brustschmerzen und Kurzatmigkeit. Höfner will von ihm wissen, ob sich der Druck auf der Brust wie ein Gürtel anfühlt, der zusammengezogen wird, oder wie ein schwerer Stein. „Wie ein schwerer Stein“, übersetzt die Begleiterin des 46-Jährigen aus dem Mongolischen. Höfner macht sich auf den Weg ins Nebenbüro, um ein Elektrokardiogramm, kurz: EKG, vorzubereiten.
Dass Höfner sich an diesem Tag um den Gesundheitszustand seines Patienten kümmert, ist keine Selbstverständlichkeit, denn eigentlich ist der 72-Jährige seit zwei Jahren im Ruhestand. Damals hatte er seine Praxis in Berlin-Wilmersdorf nach 35-jähriger Tätigkeit schweren Herzens aufgegeben. Aber ein Leben ganz ohne Arbeit, das konnte Höfner sich nicht vorstellen: „Für Ärzte, die in den Ruhestand gehen, besteht die Gefahr, in ein Loch zu fallen“, sagt der gebürtige Berliner. Das, so beschloss Höfner, sollte ihm nicht passieren. Mit Gartenarbeit und Hobbys wie Aquarellmalen und Gitarrespielen fühlte er sich jedoch nicht ausgelastet. Als ein Kollege ihm von einem Ort erzählte, an dem Menschen ehrenamtlich und kostenfrei medizinisch behandelt werden, zögerte er nicht und fand den Weg in die Praxis in der Aachener Straße.

Einmal in der Woche übernimmt Höfner seitdem die Sprechstunde Allgemeinmedizin. Daneben gibt er im Rahmen der Gemeindearbeit Deutschunterricht für Geflüchtete aus der Ukraine und übernimmt die medizinische Begleitung in einer Einrichtung für Erwachsene mit Behinderung. Alles in allem füllen die Ehrenämter in der Regel rund 15 Wochenstunden.
Zurück ins Sprechzimmer: Joachim Höfner schaut sich das EKG seines Patienten genau an. Er will überprüfen, ob die Beschwerden auf Durchblutungsstörungen zurückzuführen sind und ob bei dem Patienten Gefahr für einen Herzinfarkt besteht.
Wichtiger Austausch mit Patienten
Zu dessen Erleichterung gibt er Entwarnung: Die Charakterisierung der Beschwerden spricht dagegen und auch das EKG-Ergebnis ist in Ordnung. Am Ende führt der Arzt die Probleme auf eine Lungenkrankheit zurück und verschreibt ein Mittel zur Weitung der Atemwege.
Die zweite Patientin an diesem Morgen hat schon seit 2019 keine Krankenversicherung mehr. Warum genau, bleibt unklar. Die 49-Jährige hat eine Lungenerkrankung und braucht ein Rezept für ein Medikament. Seit sie ihren Versicherungsschutz verloren hat, war sie regelmäßig in der Praxis, um sich behandeln zu lassen.
„Mein Ehrenamt ist nicht nur sinnstiftend, es macht mir auch große Freude.“
Wegen ihres starken Hustens empfiehlt Höfner der Patientin das Buch „Endlich Nichtraucher“ – ein Klassiker, der schon vielen Menschen geholfen hat. Auch er selbst habe mit dessen Hilfe vor Jahren erfolgreich mit dem Rauchen aufgehört, erzählt der Arzt.
Gefragt, was seine Motivation sei, sich in einem Alter, in dem andere den Ruhestand genießen, noch regelmäßig in seinem gelernten Beruf zu betätigen, antwortet Höfner: Er schätze, dass es sinnstiftend sei und Freude mache. „Der Arztberuf ist halt einfach ein toller Beruf“, sagt er. Außerdem ermögliche ihm die Tätigkeit bei den Maltesern, seine langjährige Erfahrung einzubringen und gleichzeitig sein medizinisches Wissen auf dem neuesten Stand zu halten. Auch der Austausch mit den Kollegen und den Patienten sei ihm wichtig.

31,2 % der über 65-Jährigen in Deutschland engagieren sich ehrenamtlich.
Quelle: BMFSFJ
Höfner bezeichnet sich als sehr kommunikativen Menschen, dem der Kontakt mit anderen guttut. Ohne das Ehrenamt, so glaubt er, käme die Erfüllung dieses Bedürfnisses zu kurz. Seine Frau arbeitet ebenfalls als Ärztin und kommt in der Regel erst am Abend zurück. Die beiden Töchter sind längst aus dem Haus. Das Einzige, was ihn vielleicht von seinen Ehrenämtern abhalten könnte, sei, wenn er eines Tages einmal Enkelkinder hat. Für die würde er auch zu Hause bleiben, lässt er durchblicken. Dann muss er los – die nächsten Patienten warten schon. Es gibt noch viel zu tun.
Der Versicherungsschutz
Laut Statistischem Bundesamt waren trotz der seit 2009 geltenden gesetzlichen Versicherungspflicht im Jahr 2019 (aktuellste Erhebung) 61.000 Menschen nicht krankenversichert – knapp zwei Drittel davon Männer. Im Jahr 2015 waren es noch 79.000 Nichtversicherte. Neben Erwerbslosen hatten Selbstständige besonders häufig keine Krankenversicherung. Die Malteser bieten bundesweit an 19 Standorten eine medizinische Versorgung für Menschen ohne Krankenversicherung an. Der Fokus liegt auf der Erstversorgung sowie auf der Notfallversorgung bei plötzlicher Erkrankung, Verletzung und Schwangerschaft. Automatisch krankenversichert sind in der Regel alle, die eine gesetzliche Rente beziehen. Zur Hälfte wird der Krankenversicherungsbeitrag von der Deutschen Rentenversicherung getragen und zur anderen Hälfte von der Rentnerin oder dem Rentner selbst. Der Beitrag wird automatisch von der Rente abgezogen. Bis auf das Krankengeld bleibt im Ruhestand der Krankenversicherungsschutz genauso wie im Berufsleben, denn die Sozialversicherungen in Deutschland verstehen sich als Solidargemeinschaft.
Infos zur Notfallversorgung: t1p.de/Malteser
Infos zur Krankenversicherung im Alter: t1p.de/Krankenversichert-DRV