Mut für neue Wege

Veränderungen sind für Alina Schierholz immer ein Risiko. „Wenn ich in einer neuen Umgebung bin, habe ich diesen Scanner-Blick: Wo könnte ich stürzen, wo könnte ich anecken, wo könnte ich mir wehtun“, sagt die 19-Jährige. „Das habe ich seit frühester Jugend gelernt.“ Das Verletzungsrisiko ist groß, wenn Alina ihre alltäglichen Routinen ändert. Das macht ihr manchmal Angst.
Im Juli sitzt sie in der Fachklinik für Kinder und Jugendliche auf Sylt. Sie spielt mit Kindern Karten, lacht, strahlt und ist voller Optimismus. Die Deutsche Rentenversicherung bietet hier Rehabilitationen für junge Patientinnen und Patienten an, damit sie trotz – häufig chronischer – Erkrankungen besser im Alltag zurechtkommen, die Schule regelmäßig besuchen und im Idealfall einfach am Leben teilhaben können, so gut es eben geht.
Alina leidet unter der Schmetterlingskrankheit, medizinisch korrekt ausgedrückt: Epidermolysis bullosa. Ein seltener genetischer Defekt führt dazu, dass bestimmte Proteine, vereinfacht gesagt Klebstoff, zwischen den Hautschichten fehlt. Bereits unter leichtem Druck entstehen Blasen und Wunden. „Ich kann deshalb auch keine weiten Strecken laufen, nichts Schweres mit den Händen tragen“, sagt sie. Auch die Schleimhäute sind betroffen, die Speiseröhre etwa und die Augen. Alina war mehrfach mit ihren Eltern und ihrem Bruder zu Rehas in der Fachklinik Sylt. „Das war für mich als Kind immer eine wichtige Auszeit“, erinnert sie sich. Heute ist sie allerdings nicht mehr als Patientin hier. Bald zwei Jahre hat sie nun auf Sylt gelebt – und als Stationshilfe gearbeitet. Erst im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres, danach wurde sie weiterbeschäftigt. Sie unterstützt das Pflegepersonal, nimmt Vitalwerte auf, beaufsichtigt Inhalationen, bearbeitet ärztliche Anordnungen. Sind andere Kinder mit Schmetterlingskrankheit im Haus, hilft sie, diese zu betreuen, und teilt ihre Erfahrungen. Die Entscheidung, von ihrer Heimat Berlin auf das mehr als 500 Kilometer entfernte Sylt zu ziehen, um einer Arbeit nachzugehen: vielleicht die schwerste ihres Lebens.

 

Einblick: Alltag
in der Klinik

„Die Reha war für mich als Kind immer eine wichtige Auszeit.“

Alina Schierholz

 

Der erste Job

Die Idee kam während ihres jüngsten Reha-Aufenthaltes vor dem Abitur auf – da ist Alina 17. Sie interessiert sich für Medizin, will aber vor einem Studium erst einmal praktisch arbeiten. Die Fachklinik Sylt ist ihr vertraut. Sollte etwas passieren, wäre sie auch therapeutisch gleich aufgefangen. Das vermittelt ihr Sicherheit und Mut, den Schritt zu wagen. Sie startet behutsam mit vier Stunden täglich in den ersten Job ihres Lebens – und steigert sich kontinuierlich.

Rückschläge, wie eine Verletzung ihrer empfindlichen Augen, steckt sie weg, wie sie es ihr ganzes Leben getan und gelernt hat. „Ich habe mir als Kind immer Gedanken gemacht, wie das alles so wird, auch beruflich. Ich habe mich immer mit den anderen Kindern verglichen: Der kann jetzt das, ich kann das nicht. Ich kann nicht aufs Klettergerüst, ich kann nicht toben, ich muss aufpassen. Das war immer da.“

Dass sie trotz ihrer Beschwerden nun sogar arbeiten kann, ist für sie ein unvergleichliches Erfolgserlebnis: „Die Arbeit macht mir jeden Tag wieder riesigen Spaß und all das hat mein Selbstbewusstsein wahnsinnig gestärkt. Während der Arbeit lege ich meine 10.000 Schritte am Tag zurück, aber verteilt auf sechs Stunden und nicht alles am Stück. Ich muss mich zwischendurch hier hinsetzen, meine Füße kurz hochlegen, einfach mal ein bisschen pausieren.“ Neulich habe sie sich versehentlich mit einem Kugelschreiber angemalt, sagt sie. „Würde ich versuchen, das wegzureiben, wäre der Druck schon zu groß für meine Haut.“ Ihre Arme sind mit großen Pflastern beklebt. „Meine Ellbogen sind meistens wund, weil ich die als Kind eigentlich immer verletzt hatte“, sagt sie. „Dadurch ist die Haut einfach zu dünn geworden. Ich trage die Pflaster einfach nur als Schutz.“

Nähe führt oft zu „Spaß-Blasen“

Alinas Krankheit führt zu einem anderen Umgang mit körperlicher Nähe. Eltern drücken ihre Kinder, knuddeln sie, toben mit ihnen herum. Bei Schmetterlingskindern, wie die Patienten auch genannt werden, ist dagegen immer Vorsicht geboten. Sonst wird der Druck auf eine bestimmte Stelle zu groß. „Irgendwie findet man dann so seine Wege“, erinnert sich Alina. „An den Oberschenkeln konnten meine Eltern mich immer gut hochheben. Wenn Verletzungen durch einen liebevollen Umgang entstehen, haben wir das immer eine Spaß-Blase genannt.“ Aber auch Spaß-­Blasen brauchen rund zwei Wochen, bis sie verschwinden. Das tut erst weh, die Stellen müssen behandelt und Verbände gewechselt werden – und wenn die Heilung einsetzt, dann juckt es. 

Rückblick: Alina
war mehrfach mit
ihren Eltern und
ihrem Bruder zu
Rehas in der Fachklinik Sylt.

Mit der Schmetterlingskrankheit leben lernen

„Vollständig heilen kann man meine Krankheit, wie viele andere chronische Krankheiten, nicht. Meine Familie und ich haben aber gelernt, besser mit der Krankheit zu leben“, denkt Alina an ihre Zeit als Patientin zurück. „Ich habe viele Tipps und Tricks zur Hautpflege gelernt. Aber das Wichtigste war eigentlich, dass wir alle mal rausgekommen sind, dass wir uns nicht um den Alltag kümmern mussten und uns ganz auf die Krankheit konzentrieren konnten.“ 

Ihre Zeit auf der Nordseeinsel neigt sich dem Ende zu. Bald wird sie nach Berlin zurückkehren und möchte dann ein Studium starten – nicht mehr Medizin, sondern Psychologie. Das heißt wieder Veränderung: neue Wege, neue Umgebung, neue Menschen. Alina weiß nun, wie sie sich anpassen und trotz großer Veränderungen und ihrer Krankheit im Arbeitsleben bestehen kann. Sylt ist zu so etwas wie ihrer zweiten Heimat geworden. Sie kann sich vorstellen, in ein paar Jahren auf die Insel zurückzukehren. „Ich kann mir aber auch vorstellen, in eine andere Stadt zu ziehen. Durch die zwei Jahre auf Sylt habe ich gelernt, dass mir viel mehr Wege offenstehen, als ich früher dachte.“

Alina Schierholz im Video-Porträt:

KINDER-REHA: Fit für den Alltag

Ausblick: Nach
ihren Jahren auf
Sylt möchte
Alina in Berlin
studieren.

Von der Aufmerksamkeitsstörung ADHS über Hautkrankheiten bis hin zu Onlinesucht gibt es viele Erkrankungen, die Kinder und Jugendliche so stark beeinträchtigen, dass sie nicht regelmäßig zur Schule gehen können und auch im späteren Erwerbsleben Nachteile erleiden. Eine Reha kann helfen, den Alltag besser zu bewältigen. 

Unter Gleichaltrigen und mit einem persönlichen Therapieplan lernen sie in spezialisierten Einrichtungen, mit ihrer Erkrankung umzugehen. Die Rentenversicherung übernimmt die Kosten für Reise, Unterkunft, Verpflegung, ärztliche Betreuung, therapeutische Leistungen und medizinische Anwendungen. Kinder bis zwölf Jahre können von einem Elternteil begleitet werden. In der Regel dauert eine Reha vier Wochen.

Nach Eingang des Antrags prüft die Rentenversicherung die Voraussetzungen für eine Reha. So sind zum Beispiel akute Erkrankungen oder auch Infektionskrankheiten keine Indikation für eine Kinderreha.

Die Rentenversicherung hat sich im Zuge der Inklusion und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Schwerbehinderung auf den Weg gemacht, großzügig Rehabilitationen durchzuführen, um sie – wie das Beispiel von Alina zeigt – künftig selbstverständlich in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Schulunterricht gehört in der Reha ebenfalls dazu. Der Anschluss an den Stoff der heimatlichen Schule bleibt möglich.

Hier geht es zum Antrag: t1p.de/kindreha

Info: Schmetterlingskrankheit

Der Name Epidermolysis bullosa heißt übersetzt: „blasenförmige Ablösung der Haut“. Es ist eine genetisch bedingte Hauterkrankung. Blasen und offene Wunden entstehen bereits durch leichte Stöße, Druck oder Reibung. Die Erkrankung ist nicht heilbar und beeinflusst das Leben von Betroffenen und ihren Angehörigen stark. Sie wird auch „Schmetterlingskrankheit“ genannt, da die Haut so empfindlich wie ein Schmetterlingsflügel ist. Laut Schätzungen leben bis zu 5.000 Betroffene allein in Deutschland.