Die Meistermacher

 

Der Sport spielte immer eine wichtige Rolle im Leben von Angelika DreockKäser. Als Jugendliche läuft sie Mittelstrecke, später wechselt sie auf lange Distanzen. Fast 40 Marathons hat sie absolviert – bis sie mit 42 Jahren einen Schlaganfall erleidet. Sie erholt sich, doch Schwindel und Kopfschmerzen bleiben, ihre Bewegungen kann sie nicht richtig koordinieren, das Gehen fällt schwer. An Marathon ist nicht mehr zu denken. „Auf den Sport wollte ich trotzdem nicht verzichten“, sagt die heute 57-jährige Frau, die in einer Klinik der Deutschen Rentenversicherung nahe dem Starnberger See als Masseurin, Bademeisterin und Physiotherapeutin arbeitet.

Renndreiräder mit teuren Achsen

Sie steigt um aufs Fahrrad und entdeckt den Parasport, den sie begeistert betreibt. Als ein weiterer Schlaganfall folgt, verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand, sie muss auf einem Renndreirad starten. Doch diese Disziplin des Parasports will ihr bayerischer Verein nicht fördern. „Mit dem Wegfall dieser wichtigen Unterstützung wollte ich mich nicht abfinden“, sagt Dreock-Käser.
Über einen befreundeten Trainer stößt sie auf den Brandenburgischen Präventions- und Rehabilitationssportverein (BPRSV) in Cottbus. Dort wird sie mit offenen Armen empfangen. Unter anderem unterstützt der Verein sie bei der Suche nach dem Equipment. Bei Renndreirädern ist etwa die breite Hinterachse teuer und schwer zu bekommen. Die Mitgliedschaft im BPRSV zahlt sich aus. Dreock-Käser fährt sogar zu den Paralympics nach Tokio und will auch bei den Spielen 2024 in Paris im Zeitfahren starten. 

 

„Wir trainieren mit ähnlichem Aufwand wie die Spitze der Nichtbehinderten.“

Francés Herrmann,
Silbermedaillengewinnerin im Speerwerfen bei den Paralympics 2021 in Tokio

 

Dass die energiegeladene Frau zum BPRSV in Cottbus kam, ist kein Zufall. Denn der Verein ist seit zehn Jahren eine bekannte Größe im Para- und Rehabilitationssport. In Tokio holten die Sportlerinnen und Sportler aus Cottbus fast ein Viertel der insgesamt 43 deutschen Medaillen. Obwohl der Verein für seine Erfolge im Parasport bekannt ist, wurde er zu einem ganz anderen Zweck gegründet. Seine Geschichte zeigt, wie sich mit Tatkraft und Ideenreichtum eine verbindende Kraft zwischen Freizeit- und Leistungssport für Menschen mit Behinderungen entfalten lässt.

Francés Herrmann mit ihrem Trainer Ralf Paulo:
Weltklasseleistung geht nur mit harter Arbeit.
Trainer und BPRSV-Vorstand Ralf Paulo hat mit seinen Athletinnen und Athleten dazu beigetragen, aus dem Brandenburger Sportverein eine Medaillenschmiede zu machen.

Rehasport statt Physiotherapie

Diese Geschichte beginnt schon im Jahr 2003, als Ärzte dazu übergehen, Patienten mit Rückenschmerzen und anderen Alltagsleiden nicht mehr zur Krankengymnastik zu schicken. Sie verordnen stattdessen Kurse für Rehabilitationssport oder Funktionstraining.
Ähnliche Maßnahmen fördert die Deutsche Rentenversicherung. Eine berufliche Rehabilitation kann dort erhalten, wer aus gesundheitlichen Gründen seinen Beruf nicht mehr ausüben kann. Hiermit soll die Eingliederung im Arbeitsleben erhalten oder wieder erreicht werden.
Rehasport hat den Vorteil, dass sich die Betroffenen nicht nur für einen kurzen Zeitraum, sondern über mehrere Monate oder Jahre regelmäßig bewegen. Doch vor rund 20 Jahren fehlte mancherorts das richtige Angebot in Praxen und traditionellen Sportvereinen.

 

„Auf Sport wollte ich trotzdem nicht verzichten.“

Angelika Dreock-Käser,
Parasportlerin auf dem Rad, Mitarbeiterin der Deutschen Rentenversicherung

 

In diese Lücke stoßen Anfang der 2000er-Jahre die Gründer des BPRSV. Sie bauen einen Verein auf und bieten die verschriebenen Kurse an – ein Erfolgsprojekt. „Gerade in den ersten Jahren sind wir sehr stark gewachsen“, berichtet Christian Seifert, der Vorsitzende des BPRSV. Bald gibt es über 4.000 Mitglieder an mehr als 200 Standorten – die meisten im Raum Cottbus. Experten für Physiotherapie, Krankengymnastik und Ergotherapie leiten die Gruppen an. Auf dem Programm steht Funktionstraining für verschiedene gesundheitliche Problemlagen. Dazu zählen Rücken-, Gelenk- oder andere Schmerzen, aber auch Erkrankungen wie Osteoporose und Arthrosen. Sie praktizieren ihre Übungen in der Halle oder im Schwimmbecken. Hinzu kommt Rehabilitationssport für Personen, die erkrankt waren, einen Unfall hatten, die beeinträchtigt oder von einer Behinderung bedroht sind. Die Kurse dauern eineinhalb, manchmal auch drei Jahre. Der BPRSV bietet außerdem Präventionskurse an, die breitensportlich angelegt sind. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg des Vereins wachsen die sportlichen Ambitionen. Nach und nach stoßen Sportlerinnen und Sportler mit Behinderungen hinzu, die an Wettkämpfen teilnehmen wollen und die der BPRSV dank seiner Finanzkraft unterstützen kann. Eine der ersten ist Francés Herrmann. Die heute 34-Jährige ist gehbehindert – Folge eines Sauerstoffmangels bei der Geburt.

Stärker als die Lähmung

Kampfgeist und Bewegungsdrang sind stärker als die Lähmung. Schon als Schülerin betreibt sie Leichtathletik. Ihr damaliger Verein kann die Cottbuserin aber nicht ausreichend fördern. Da sie talentiert ist, wird sie an der Lausitzer Sportschule in Cottbus genommen, die sich gerade für den Parasport öffnet. Als erste Schülerin mit Behinderungen macht sie dort Abitur und bekommt genug Zeit, um zu trainieren und sich auf Wettkämpfe vorzubereiten. Damit ebnet sie den Weg für nachfolgende Generationen von Parasportlern, die nun die Sportschule und auch das angeschlossene Internat besuchen dürfen.

Im Kugelstoßen und später Speerwerfen landet Herrmann bei Paralympischen Spielen, Weltund Europameisterschaften auf vorderen Plätzen. Ihr größter Erfolg ist eine Silbermedaille 2021 in Tokio. Im Training und Wettkampf schnallt sich Herrmann auf einem Metallstuhl fest, so wie es das Reglement vorsieht. Sie lehnt ihren Oberkörper weit zurück, holt Schwung und schleudert den Speer. Auf diese Weise schaffen Sportlerinnen ihres Kalibers um die 20 Meter. Aus dem Sitzen, ohne Anlauf.

 

43 Medaillen...

 holten die deutschen Sportlerinnen und Sportler bei den Paralympics 2021 in Tokio. Fast ein Viertel davon errangen die Athleten aus Cottbus.

 

Aus dem Sitzen, ohne Anlauf. Diese Weltklasseleistung geht nur mit harter Arbeit. „Wir trainieren mit ähnlich hohem Aufwand wie die Weltspitze im Nichtbehindertensport“, sagt Francés Herrmann. Die Unterstützung durch den BPRSV und die staatliche Sportförderung seien dafür unbedingt notwendig. Sportler mit Behinderungen brauchen vieles, was andere nicht benötigen. Dazu gehört nicht nur eine auf die Person abgestimmte Einzelbetreuung, sondern auch tägliche Krankengymnastik, die besonderen körperlichen Voraussetzungen gerecht wird. Der BPRSV liegt auf demselben Areal wie der paralympische Stützpunkt Brandenburgs, wo Leichtathletik und Paracycling trainiert werden. Er ist stützpunkttragender Verein für den Parasport und mit den Einrichtungen am Ort verbunden. Der Olympiastützpunkt für nichtbehinderte Sportler befindet sich auf demselben Gelände. Es gibt ein Rad- und ein Leichtathletikstadion, Sporthallen und medizinische Einrichtungen. 

Speziell für den Parasport sollen demnächst noch weitere Gebäude hinzukommen. „Das liegt auch an einer umfassenden Förderung durch den Staat“, sagt Ralf Paulo. Der Trainer ist paralympischer Stützpunktleiter und im Vorstand des BPRSV. In den kommenden Jahren werden große Summen an den Standort fließen.

 

„Wenn es für ganz oben nicht reicht, ist das kein Drama.“

Ralf Paulo,
Trainer, paralympischer Stützpunktleiter und
im Vorstand des Brandenburgischen Prävention sund Rehabilitationssportvereins (BPRSV)

 

Darunter sind Hilfen für den Strukturwandel in der Lausitz. Unter anderem soll ein Paracycling-Center hinzukommen. Außerdem stehen Umbauten an, um die alten Gebäude mit Fahrstühlen oder Rollstuhlrampen auszurüsten.
Selbstverständlich soll der BPRSV nicht nur Supertalenten mit Behinderungen vorbehalten sein. Auch der Breitensport hat seinen festen Platz. So sind auch Rollstuhltanz oder Rollstuhlbasketball im Angebot. Auch wer nur ambitioniert trainieren will, sei immer willkommen, betont Paulo. „Wenn es für ganz oben nicht reicht, ist das kein Drama.“
Schließlich soll der Sport in erster Linie Menschen verbinden.

Prävention für Berufstätige – RV Fit

Mit regelmäßigem Training beginnen sollten Menschen nicht erst, wenn sie krank sind: Die Deutsche Rentenversicherung ermöglicht an zahlreichen Standorten und bei unterschiedlichen Anbietern ein kostenfreies Trainingsprogramm zu Ernährung, Bewegung und Stressbewältigung: RV Fit. Ziel ist ein verbessertes Lebensgefühl. Das Programm wurde von Ärzten für Berufstätige entwickelt und findet in kleinen Gruppen statt. Denn neben der Arbeitsleistung bringt ein Tag viele Herausforderungen mit sich. 

In den Kursen üben die Teilnehmer beispielsweise Bewegungen körperschonend auszuführen. So kräftigen sie ihre Muskulatur. Ernährungsberatung und gemeinsames Kochen ergänzen das Programm.

Teilnehmen können alle, die aktiv berufstätig sind, mindestens seit sechs Monaten arbeiten und erste Zipperlein wie etwa Schmerzen im Rücken haben. Das Programm startet mit einer mehrtägigen Einführung, wofür die Teilnehmenden von der Arbeit freigestellt werden. Es folgt ein regelmäßiges Training. Nach einem halben Jahr wird das Gelernte in einer Anschlussveranstaltung aufgefrischt.

Mehr Informationen: www.rv-fit.de

 

FOTOS: PICTURE ALLIANCE/JENS BÜTTNER, GETTYIMAGES/CARMEN MANDATO/STAFF, IMAGO/BEAUTIFUL SPORTS; STEPHAN FLOSS