Zu Beginn der Probe spielt Max Weise eine Abfolge von Akkorden. Die 30 Männer und Frauen im Halbkreis singen mit. „Aah-aah-aaah. Eeh-eeh-eeeh. Iiih-iihiiih.“ Ein Klangteppich füllt den Übungsraum im Bürgerzentrum Nippes. „Spürt dahin, wo es vibriert“, ruft der Chorleiter. „Fühlt ihr euch?“ Die Chormitglieder nicken und lächeln. Schon beim Einsingen wird deutlich, dass der Kölner GlücksChor seinen Namen zu Recht trägt. Unter denen, die sich hier einmal die Woche treffen, sind zunächst Menschen, die einfach nur musizieren wollen. Es gibt aber auch solche, die eine schwere Zeit hinter sich haben, nach Krankheit oder dem Verlust von Angehörigen nicht mehr mitten im Leben stehen, ihre Arbeitsfähigkeit zu verlieren drohen oder verloren haben – und damit auch ein Stück Teilhabe. Für sie ist der Chor eine Möglichkeit, neue Kraft zu schöpfen und ihr Wohlbefinden zu steigern. Kurzum: sich ein Stück Glücklichsein in ihr Leben zurückzuholen.
Eine von ihnen ist Dora Engl-Küssner, die seit rund acht Jahren im GlücksChor singt. Früher leitete die Lehrerin eine Grundschule. Sie litt so stark unter Depressionen, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Mittlerweile geht es ihr besser, aber bis dahin war es ein weiter Weg. Die Musik sei eine wichtige Hilfe gewesen, sagt sie. „In Gemeinschaft mit den anderen habe ich Singen gelernt. Allein hätte ich mich das nicht getraut.“ Dass die Atmosphäre hier so angenehm sei, das liege auch am Chorleiter. „Er lässt keinen Leistungsdruck aufkommen.“
Neue Kontakte
Max Weise trägt T-Shirt und Jeans, seine dunklen Augen leuchten. „Mir ist es wichtig, die Freude am Singen zu transportieren.“ Der 40-Jährige hat Gesang studiert, arbeitet heute als Musiker und Chorleiter. Nach Auftritten gehe es ihm nicht darum, ob jemand gut oder schlecht gesungen habe. Entscheidend sei, ob man sich mit den Anwesenden verbunden gefühlt habe, erläutert er sein Credo. „Wenn wir unserer Freude Ausdruck geben, merkt das auch das Publikum und dann sind wir erfolgreich.“
Dass Spaß im Mittelpunkt steht, zeigt sich am Repertoire des GlücksChors. Bei der Auswahl spielen für Weise die Texte eine wichtige Rolle. Für die heutige Chorprobe hat er das Lied „Du hast’n Freund in mir“ von Klaus Lage vorgesehen. Darin geht es um eine sichere und verlässliche Verbindung zwischen Menschen.
Neue Kontakte hat auch Margrit Wittenberg gesucht, die seit neun Jahren im GlücksChor singt. Nach Trennung und Scheidung fühlte sie sich niedergeschlagen, das Leben, die Arbeit, alles fühlte sich schwer an. „Ich suchte etwas, das mir Spaß macht“, sagt sie. Das Singen entpuppte sich als Heilmittel. Heute hat sie Freundschaften geschlossen. Mit den Mitgliedern des GlücksChors geht sie gemeinsam wandern und nach der Probe in die Kneipe nebenan.
Womöglich pflegen sie dort eine Thekenfreundschaft, die das Lied „Alle Jläser huh“, beschreibt, was auf Hochdeutsch „Alle Gläser hoch“ heißt. Das im Rheinland sehr populäre Lied der Kölschrock-Band Kasalla beschreibt eine Kneipenrunde, die auch auf verstorbene Freunde anstößt, die nicht mehr dabei sein können. Als der Chor das Stück singt, haben einige Tränen in den Augen, umarmen sich. Für Chorleiter Max Weise völlig in Ordnung. „Die Proben sollen einen Raum bieten, in dem auch Traurigkeit erlaubt ist.“ Komplett ohne Regeln geht es im GlücksChor jedoch auch nicht. Das wird bei der Probe deutlich. Weise legt Wert auf Struktur und Disziplin, Unterhaltungen sollen bitte nicht stattfinden, wenn er spricht, und auch Texte und Melodien müssen die Mitglieder vor den Auftritten auswendig lernen.
Anke Engelke half bei Gründung
Zehn Jahre sind seit der Gründung des Chors mittlerweile vergangen. Damals wurde Weise per Casting für eine TV-Sendung ausgewählt. Die für ihre Comedy-Programme bekannte Schauspielerin Anke Engelke ging damals in einer Reportage der Frage nach, was Glück bedeutet. Dafür suchte sie per Anzeige Menschen, die Schicksalsschläge erlitten hatten. Ein wissenschaftliches Experiment sollte belegen, ob Singen hilfreich ist. Die zu diesem Zweck gebildete Gesangsgruppe sollte Weise leiten. Der nicht ganz ernst gemeinte Arbeitsname lautete damals: Chor der Muffeligen. Den Versuch betreute der Musikwissenschaftler Gunter Kreutz. Als Professor an der Universität Oldenburg erforscht er, wie sich Musik auf das Wohlbefinden auswirkt. Über Wochen traf sich der neu zusammengestellte Chor und übte Lieder ein. Nach jeder Probe wurden Speichelproben genommen. Das Ergebnis war eindeutig: Während des Singens wurde bei den Teilnehmenden vermehrt Oxytocin ausgeschüttet. Das Glücks- und Antistresshormon wird auch beim Stillen, bei Geburten oder bei Berührungen freigesetzt. Seine Aufgabe ist es, Bindungen zu stärken, Angst zu vermindern und zu entspannen. Ganz genau erforscht seien die Zusammenhänge noch nicht, so Kreutz. „Aber sicher ist, dass sich beim Singen etwas in unserem Gemütssystem in Bewegung setzt.“
Musikkultur der Bestenauslese
Kreutz ist überzeugt, dass die heilende Wirkung des Singens noch viel mehr Menschen zugute kommen könnte. „Leider haben wir eine Musikkultur der Bestenauslese.“ Selbst in der Laienszene würden viele Leute denken, sie müssten in erster Linie gut sein. Folge: Das Singen wird zur Quälerei. Wer ständig hört, dass er besser sein sollte, der hört auf und fängt nie wieder an. „Gesangstraumatisierte“, nennt der Professor diese Personen.
Im Kölner GlücksChor gibt es das nicht. Nach den Dreharbeiten mit Anke Engelke beschloss die Gruppe, sich weiter zu treffen. Es hatte einfach zu viel Spaß gemacht. Mit der Zeit kamen neue Mitglieder hinzu, andere stiegen aus, sagt Weise. „Aber die Freude am Singen steht nach wie vor an erster Stelle.“ Da waren sich immer alle einig.
Sympathikus und Parasympathikus
Singen macht glücklich, fordert den Körper wie leichter Sport, bringt den Kreislauf in Schwung und stärkt die Abwehrkräfte. Das liegt am Luftholen. Wer viel singt, der lernt, in den Bauch zu atmen. So senkt sich das Zwerchfell, das drückt Organe nach unten und schafft Platz, damit sich die Lunge entfalten kann: Die Sauerstoffsättigung steigt. Musik wirkt positiv auf das vegetative Nervensystem, das Abläufe im Körper regelt – wie Atem, Herzschlag und Verdauung. Dabei gibt es zwei Spieler, den Sympathikus und den Parasympathikus. Der Sympathikus ist aktiv, wenn wir unter Druck stehen. Der Parasympathikus hingegen leitet Entspannung ein. Das tiefe Ein- und Ausatmen beim Singen treibt den Parasympathikus an und macht uns ruhiger. Dass Musik die Abwehrkräfte stärkt, belegte der Musikwissenschaftler Gunter Kreutz mit anderen Forschenden vor knapp zehn Jahren anhand von Speichelproben eines Kirchenchors. Nach den Proben war die Konzentration der Immunglobuline des Typs A deutlich höher als zuvor. Je mehr Immunglobulin im Blut ist, umso leistungsfähiger ist das Immunsystem.