Sven Albrecht
Der 45-Jährige ist Chef des Organisationskomitees der Special Olympics World Games. Schon seit Anfang der 2000erJahre engagiert er sich für den Behindertensport. Organisiert wurden die Spiele von Special Olympics Deutschland, einem Spitzenverband, der sich für die Förderung und Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung engagiert. Sven Albrecht ist hier Bundesgeschäftsführer.
Herr Albrecht, in die „Sesamstraße“ zieht eine neue Bewohnerin ein. Die Puppe heißt Elin und sitzt im Rollstuhl. Wie finden Sie das?
Sehr gut. Bei unseren Weltspielen legen wir von Beginn an einen Schwerpunkt auf Kinder und Jugendliche. Unsere ganze Arbeit ist darauf ausgerichtet, dass wir eines fördern wollen: eine Generation, für die es selbstverständlich ist, inklusiv aufzuwachsen.
Woran hapert es bei der Inklusion?
Es fehlt an Begegnungen. Wann treffe ich im Alltag auf Menschen mit Behinderungen – bei der Arbeit, in Schulen, Sportvereinen oder Kindergärten? Unsicherheit entsteht meistens, weil keine Begegnung da ist. Wenn es mehr Kontakte gäbe, würde alles auch viel entspannter und selbstverständlicher sein.
Warum reden Sie nicht von Behinderten, sondern von Menschen mit Behinderungen?
Die Behinderungen sind nur eine Eigenschaft, aber nicht die allein Entscheidende. Das haben wir von unseren Athletinnen und Athleten übernommen, die uns immer wieder klar gemacht haben: Wir wollen nicht auf unsere Behinderungen reduziert werden.
Können Ihre Spiele etwas verändern?
Mit einer Großveranstaltung erreichen wir zu wenig: Über 200 Kommunen in ganz Deutschland sind Gastgeber einer Delegation von uns. Von diesen Host Towns soll ein Aufbruch für mehr Teilhabe und Anerkennung von Menschen mit Behinderungen ausgehen. Die vielfältigen Ideen, Initiativen und Projekte, die Kooperationen mit Schulen, Vereinen, Kultureinrichtungen und Werkstätten sollen den Umgang mit dem Thema Inklusion nachhaltig voranbringen.
Reicht das aus?
Das kann nur der Startpunkt sein, nicht aber das Finale. Die Aufgabe, besser für Inklusion zu sorgen, muss nach den Spielen weitergehen: Nahverkehr, Kindergärten oder Sportstätten barrierefrei zu machen ist eine Mammutaufgabe, für die wir gerade das Fundament legen.
Sie arbeiten gegen Barrieren in den Köpfen?
Die sind einfach da. Ganz wesentliche Punkte für uns sind die Begleitung von Sportvereinen, vor allem im Bereich der Bildung. Aktuell haben nur acht Prozent aller Menschen mit geistiger Behinderung Zugang zum Sport. Viele sind zu unerfahren im Umgang mit Menschen mit Behinderungen, fühlen sich nicht vorbereitet – und müssen geschult werden. Lehrerinnen und Lehrer, Trainer, medizinisches Personal – alle werden zu wenig auf Inklusion vorbereitet.
Was machen andere Nationen besser als wir?
Man kommt dann immer wieder schnell auf skandinavische Länder oder auf die Niederlande. Dort ist die Offenheit der Gesellschaft ausgeprägter, gerade was die schulische Ausbildung angeht. Inklusion ist auch grundsätzlich eine gute Vorbereitung für das Berufsleben. Soziale Werte werden doch in allen Berufsfeldern wichtiger. Die Gesellschaft muss erkennen, was es für eine Chance für alle ist, miteinander aufzuwachsen, Verständnis zu verbessern und Stärken des anderen zu erkennen.
„Unsicherheit entsteht meistens, weil keine Begegnung da ist.“
Sven Albrecht
Das klingt, als sprächen Sie aus Erfahrung…
Jeder, der zu einer Special-Olympics-Veranstaltung geht, kommt mit der Einstellung, dass er helfen muss. Ganz viele von diesen Helfenden gehen nach Hause und sagen: Der Einzige, dem geholfen worden ist, bin ich selbst – weil ich eine völlig neue Sichtweise erlebt habe: Werte, Wärme, Rücksicht. Davon ist viel in unserer Gesellschaft verloren gegangen.
Sind Menschen mit Behinderungen stärker von Armut betroffen als der Durchschnitt der Bevölkerung?
Kein Teil der Mehrheit zu sein, ist kein gutes Gefühl. Auch das ist Armut. Aus internationaler Perspektive gibt es auch einen starken Zusammenhang zwischen finanzieller Armut und Behinderung. Behinderungen bedeuten oft, dass die soziale Teilhabe und die Absicherung schlecht sind. Die Chancen, eine Rente anzusparen sind oft kleiner als bei Menschen ohne Behinderungen. Auch deshalb ist das Thema Inklusion und Integration in den ersten Arbeitsmarkt so wichtig.
Hilft das gegen den Fachkräftemangel?
Sicher. Natürlich muss man die Voraussetzungen schaffen. Schon heute gibt es ab einer bestimmten Unternehmensgröße die Verpflichtung, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen. Der kommen viele Unternehmen aber nicht nach. Das Bundesteilhabegesetz setzt hier an, etwa um Kooperationen von Behindertenwerkstätten mit dem ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern. Es gibt Nachholbedarf, damit Menschen mit Behinderungen es auf den ersten Arbeitsmarkt schaffen.
Diese Werkstätten sind durchaus umstritten.
Das ist ein Angebot für Menschen, die sonst gar keine Arbeit bekommen würden. Zudem geht es hier auch um Persönlichkeitsentwicklung. Viele Sportangebote für Menschen mit Behinderungen finden in solchen Werkstätten statt. Das vergisst man schnell. Die Zahl der Menschen mit Behinderungen, die von Werkstätten in den ersten Arbeitsmarkt wechseln, ist aber viel zu gering. Nach meiner Wahrnehmung ändern viele Werkstätten da bereits ihr Profil. Natürlich darf es für Menschen mit Behinderungen keinen Automatismus geben, dass sie nur in eine Werkstatt kommen können. Wir brauchen mehr Angebote für Ausbildung, Fortbildung und Arbeit, außer den Standardvarianten.
Brauchen wir mehr politischen Druck?
Unternehmen, die ihre Quote nicht erfüllen, müssen ja Ausgleichsabgaben leisten. Die sind aber überschaubar. Zwang ist in der Regel dennoch nicht zielführend. Wir sollten mehr überzeugen. Und da bin ich wieder beim Ausgangsthema: der Bedeutung der Inklusion. Personaler und Firmenchefs, die Inklusion in ihrem Werdegang erlebt haben, sind offener für so etwas. Für uns alle lohnt sich das hundertprozentig.
Der verstorbene Kabarettist Herbert Feuerstein fand, auch Menschen mit Behinderungen hätten ein Recht darauf, veräppelt zu werden. Stimmen Sie zu?
Es geht am Ende immer darum, Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zu akzeptieren. Natürlich haben auch Menschen mit Behinderungen Stärken und Schwächen. Den einen mag man mehr, den anderen weniger. Es geht um Akzeptanz, nicht um Mitleid. Da muss Kritik erlaubt sein – und selbstverständlich auch Humor.
DATEN & FAKTEN
Zeichen für Inklusion
In 26 Sportarten traten Menschen mit mehrfacher und geistiger Behinderung Ende Juni gegeneinander in Berlin an. Über 330.000 Besucher feuerten die Sportler an. So auch Kirk Wint aus Jamaika, hier beim 50-Meter-Lauf. Aus der Not hat er einen eigenen Laufstil auf Händen und Knien entwickelt, weil sich seine Eltern keinen Rollstuhl leisten konnten. Am Ende wurde die Fahne der Special Olympics eingezogen und an die italienische Delegation für die Winterspiele 2025 übergeben, die in Turin und im Piemont ausgetragen werden. Die Atmosphäre muss nun nachhaltig die Inklusion im Alltag weiter fördern. „Bleibt am Ball, wir bleiben am Ball“, so Christiane Krajewski, Präsidentin von Special Olympics Deutschland.