Wer gehen will, muss  gehen“ – Jürgen Becker wird beim Training von zwei Physiotherapeuten 
unterstützt.
Wer gehen will, muss gehen“ – Jürgen Becker wird beim Training von zwei Physiotherapeuten unterstützt.



„Lasst euch nicht hängen!“

Es ist der 23.Dezember 2022. An diesem Tag hat Jürgen Becker ein sehr kostbares Geschenk bekommen  – zwei Unterschenkelprothesen. Zum ersten Mal seit Monaten fühlt er sich wieder mit anderen Menschen auf Augenhöhe. „Ich hatte vor Freude Tränen in den Augen“, erzählt der 58-Jährige. Die ersten Schritte sind schwierig und ungewohnt. Drei Meter schafft er, für mehr reicht die Kraft nicht. Für die Ärzte ist das ein riesiger Erfolg, für Jürgen Becker ein Wechselbad der Gefühle. „Ich war völlig fertig und habe mich gefragt: ‚Worüber freuen die sich so? Das wird doch nie was.‘“ Der Hannoveraner hat schon einiges durchstehen müssen. 1990 wird ihm nach einem Motorradunfall die Milz entfernt. Dadurch fehlen ihm wichtige Antikörper zur Infektabwehr. Als er 2022 nach einem Insektenstich zusammenbricht, stellt sich heraus, dass er unter dem Waterhouse-Friderichsen-Syndrom leidet. Die Erkrankung wird durch Infektionen, vorwiegend durch Meningokokken, ausgelöst und führt zur Blutvergiftung und einer schweren Blutgerinnungsstörung. Bei Jürgen Becker kommt es zum Multiorganversagen. Vier Monate lang wird er in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) behandelt. Seine Überlebenschance liegt bei zehn Prozent. Die Überlebenden verlieren oftmals alle Gliedmaßen.

Die Ärzte können sein Leben retten, aber nicht seine Beine. „Ich bin wahrscheinlich der Einzige, der seine Arme behalten durfte“, vermutet Jürgen Becker. Von der MHH geht es direkt zur Anschlussheilbehandlung (AHB) in das Rehazentrum Bad Eilsen. In der Klinik der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover steht für ihn die Wundversorgung im Vordergrund. Dabei kommen unter anderem CO2-Gasbäder zum Einsatz. Das Fachpersonal in Bad Eilsen und die behandelnden Ärzteteams der MHH arbeiten eng zusammen. Die Behandlung hat Erfolg. Keine vier Wochen später steht Jürgen Becker – flankiert von seinem Physiotherapeuten und dem Chefarzt der Orthopädie und Unfallchirurgie, Dr.Peter Schilke – am Stufenbarren und wagt seine ersten Schritte.

Für den 58-Jährigen ist klar, dass sich seine Situation nicht von allein verbessern wird: „Man kann den ärztlichen Rat und eine Reha nur als Anleitung zur Initiative verstehen. Ohne Eigenantrieb geht es nicht.“ Dass das nicht einfach wird, ist ihm bewusst: „Die Ziele dürfen ruhig hochgesteckt sein. Aber wenn es nicht geht, dann macht man lachend und motiviert am nächsten Tag weiter.“

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Rehabilitationen hat die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover 2022 finanziert.

Muskelaufbau in der Reha

Mit abgeheilten Wunden und angepassten Prothesen startet Jürgen Becker im März 2023 vorzeitig in eine zweite Reha. Diesmal geht es darum, gezielt Muskeln aufzubauen. „Wer gehen will, muss gehen“, sagt Dr.Schilke. Für Patienten mit verminderter Gehfähigkeit setzt das Rehazentrum Bad Eilsen ein neues Laufband mit Airwalk-System ein. Während Jürgen Becker auf dem Laufband übt, sorgt ein Gurt dafür, dass der Druck auf seine Prothesen abgeschwächt und er während der Trainingseinheit sicher gehalten wird. Der Physiotherapeut kann sich dabei vollkommen auf die Bewegungen des Patienten konzentrieren und besser korrigierend eingreifen. Durch dieses Verfahren kann früh und schonend mit der Bewegungstherapie begonnen werden. „Ich habe nicht eine Einheit ausgelassen“, erzählt Jürgen Becker. „Das Rehazentrum ist sehr weitläufig. Wenn ich mir eine Zeitung gekauft habe, habe ich 1.200 Meter zurückgelegt.“ So trainiert er auch abseits des Trainingsplans. „Mir ist es besonders wichtig, dass ich alles in meinem Tempo mache. Ich habe meinen Körper neu kennengelernt.“

Seit 2018 ist Jürgen Becker Zeugwart beim SV Arminia Hannover und dort allseits bekannt und beliebt. Wie es für ihn beruflich weitergeht, wisse er noch nicht. Eine Nachfolge-Operation hat er noch vor sich: „Dann werden wir weitersehen. Am besten wäre wohl ein Arbeitsplatz im Sitzen.“ Seinem Hobby Fußball will er treu bleiben: „Wir haben im Verein eine Fußball-Inklusionsgruppe. Da passe ich jetzt gut rein.“ Jürgen Becker will ein Vorbild sein, vor allem für seinen 17-jährigen Sohn, aber auch für andere Betroffene. Seine Botschaft lautet: „Lasst euch nicht hängen! Wenn man morgens aufwacht, wenn es einem nicht gut geht, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder es ist wirklich was – dann bleibt man liegen. Oder man steht auf und gibt sein Bestes.“ Dass er für Taten und nicht für Worte steht, beweist Jürgen Becker nach seiner zweiten Reha. Er schafft jetzt sechs Kilometer.

 

Mehr über die Rehakliniken: www.t1p.de/kliniken

Mit Prothesen laufen  lernen – ein mühevoller 
Weg steht Jürgen  Becker (rechts) bevor. 
Eine Physiotherapeutin  hilft ihm dabei.