Samthandschuhe braucht es nicht

Ich bin in Mexiko geboren und aufgewachsen. Mit knapp 18 Jahren kam ich nach Deutschland, um hier Elektrotechnik zu studieren. Zunächst besuchte ich ein Jahr lang das Studienkolleg in Köln und zog dann nach Karlsruhe. Anfangs war es sehr schwer für mich, denn ich suchte monatelang nach einer Wohnung. Die Situation erschien mir ausweglos, ich bekam Absage um Absage.
Meine Eltern wollten mir helfen und suchten von Mexiko aus per Internet. Irgendwann stolperte meine Mutter über ein Angebot des Verbandes Lebenshilfe. Gesucht wurde ein neuer Mitbewohner für eine Wohngemeinschaft, in der Studierende gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen leben. Meine Mutter meinte: Melde dich da mal. Und das tat ich, ohne zu zögern. In Mexiko war ich mit einem Cousin aufgewachsen, der eine schwere körperliche und geistige Behinderung hatte, das West-Syndrom. Berührungsängste vor Leuten mit Behinderungen kenne ich nicht.

Das Bewerbungsgespräch lief sehr gut und ich konnte mich kurz darauf schon den Bewohnerinnen und den anderen beiden Studenten vorstellen, die bereits in der Wohnung lebten.
Nicole ist heute 58 Jahre alt, Sandra 40. Beide haben eine infantile Cerebralparese, eine neurologische Erkrankung, die die Bewegung sowie das Gleichgewicht beeinträchtigt. Bei Nicole kommt eine spastische Lähmung hinzu, sie sitzt im Rollstuhl. Bei dem ersten Treffen haben wir sofort gemerkt, wie gut wir harmonieren. Wir haben den gleichen schwarzen Humor und machen gegenseitig Witze über uns, auch die Behinderung ist kein Tabu. Mit Samthandschuhen wird bei uns niemand angefasst.

 

„Wir Mitbewohner helfen bei der Bewältigung des Alltags, zum Beispiel beim Kochen und Einkaufen.“

Emiliano Aldrett,
Student

 

In den acht Jahren meines Zusammenwohnens mit den beiden hatten wir immer wieder neue Mitbewohner und Auszüge. Manche waren mit dem Studium fertig, andere fühlten sich mit der Situation überfordert. Dabei haben wir keine pflegerischen Aufgaben, dafür gibt es externe Betreuer. Wir Mitbewohner unterstützen mehr bei der Bewältigung des Alltags, zum Beispiel helfen wir beim Kochen, Wäschewaschen oder Einkaufen. Regelmäßig übernehmen wir auch den Nachtdienst: Wir achten darauf, ob Nicole und Sandra Hilfe benötigen.
Ich mache das von Herzen gerne, auch wenn es viel Arbeit ist und manchmal auch belastend. Ich empfinde große Verantwortung gegenüber beiden, vor allem, weil sie kaum Kontakt mit ihren eigenen Familien haben. Wenn ich nach einem langen Tag an der Uni nach Hause komme, ist es schön zu wissen, dass die beiden auf mich warten. Mehr noch: Ich empfinde Nicole und Sandra wie meine Familie. Die Wohngemeinschaft ist mein Zuhause weit weg von zu Hause. Wir gehen zusammen in Musicals, ins Kino, in den Zoo oder auf Konzerte. Auch Weihnachten und Silvester feiern wir zusammen.

Wir verstehen uns blind

Darum graut es mir auch schon vor dem Zeitpunkt, an dem ich mit dem Studium fertig bin und die Wohnung verlassen muss. Vor allem Nicole werde ich wahnsinnig vermissen. Ich sage immer, wir sind wie zweieiige Zwillinge. Wir verstehen uns blind. Sie weiß oft schon, was ich denke, bevor ich es ausgesprochen habe. Ich habe versprochen, dass ich auch nach meinem Auszug regelmäßig zu Besuch kommen werde – mindestens einmal die Woche.