Von ihrem Schreibtisch aus kann Dr. Jana Barinoff zwischen den Bäumen das Meer schimmern sehen. Die gynäkologische Onkologin leitet als Ärztliche Direktorin die Reha-Einrichtung Ostseeblick auf Usedom, eine Klinik der Deutschen Rentenversicherung. 70 Prozent der rund 3.200 Rehabilitandinnen pro Jahr haben eine Brustkrebsbehandlung hinter sich und versuchen auf der Insel Kraft für den Berufsalltag zu tanken.
Dr. Barinoff hat selbst viele Jahre am Operationstisch gestanden und Krebstumore entfernt, bevor sie sich zusätzlich zur Psychotherapeutin und Sexualmedizinerin weitergebildet hat. Sie kann deshalb in ihrer Klinik ein einmaliges therapeutisches Angebot bereithalten: über Sexualität und Krebs zu sprechen – ein doppeltes Tabu. „Die allgemeine Auffassung ist häufig: Du hast Krebs? Da wirst du doch wohl nicht an Sex denken! Sei mal froh, dass du alles überlebt hast“, erklärt sie. „Dabei ist Sexualität ein Grundbedürfnis wie Essen und Trinken oder Vertrauen und Geborgenheit.“ Wissenschaftlich sei erwiesen, dass Paare mit einer lustvollen Sexualität gesünder sind und älter werden.
Doch wie zurückfinden ins Leben, wenn Operation, Bestrahlung und eventuell auch Chemotherapie überstanden sind? Viele Betroffene geraten nach der Behandlung in eine depressive Phase, denn „das alte Leben ohne Krebs ist nicht mehr da und sie haben es noch nicht geschafft, das neue zu entwickeln“, sagt Barinoff. Viele fühlten sich nicht mehr attraktiv und hätten Angst, verlassen zu werden. Und nach der Behandlungsphase sei es oft schwierig, wieder zu regelmäßiger Sexualität zurückzufinden. „Oft werden in der Gynäkologie die Probleme rund um die Sexualität auf die Trockenheit der Vagina reduziert“, schildert die ärztliche Direktorin ihre Erfahrung. Die Realität sei jedoch viel komplexer. Wer zu ihr in die Sprechstunde kommt, habe andere Probleme. Klassischerweise klagten die Rehabilitandinnen, sie hätten keine Lust auf Sex und deshalb Angst, ihr Partner könnte sich trennen wollen. Dr. Barinoff fragt dann: „Wann war denn das letzte Mal, dass die Sexualität zu ihrer Zufriedenheit war?“ Oft stelle sich heraus, dass die Kränkungen und Probleme in der Beziehung viel älter sind als die Krebsdiagnose. „Dort muss man dann ansetzen, beispielsweise mit Fragen wie: Was darf für Sie beim Sex nicht sein?“
Doch manchmal ist die Ursache tatsächlich organisch wie etwa Schmerzen bei der Penetration. So ist es auch bei Sylvia Fischer*. Sie hat sich nach einem Vortrag von Dr. Barinoff zum Thema für eine therapeutische Einzelsitzung angemeldet. Die 52-jährige Sozialpädagogin aus Dresden ist sportlich und kommt gerade rotwangig von einem Spaziergang am Strand. Ihre Haare sind nach der Chemotherapie wieder zu einer Kurzhaarfrisur nachgewachsen. „Mein Mann nimmt sehr viel Rücksicht und ist auch ohne Sexualität sehr liebevoll“, erzählt die Mutter zweier erwachsener Kinder. „Ich möchte gern wieder Sex haben, doch wenn es weh tut, hat man nicht besonders viel Spaß daran.“
Schmerzen nach einer längeren Phase ohne Sexualität seien gerade bei Frauen nach der Menopause häufig, erläutert Dr. Barinoff. „Die Haut der Vagina ‚vergisst‘, wie man mit Reibung und Druck umgeht.“ Sie empfehle beispielsweise Gleitmittel und es langsam angehen zu lassen. Und der nächste Geschlechtsverkehr solle nicht erst nach drei Monaten sein, damit die Haut sich nicht gleich wieder „entwöhnt“.
* Name von der Redaktion geändert
30 %
aller Krebsfälle bei Frauen sind Brustkrebs.
Es ist die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Jedes Jahr erhalten rund 70.500 Patientinnen diese Diagnose.
Quelle: Krebsinformationsdienst
Das Gehirn ist das größte Sexualorgan
Außerdem könne man auch ohne Penetration ein erfülltes Sexualleben genießen, betont Barinoff. Der klassische „Akt“ sei auch für den Partner durchaus nicht das Maß aller Dinge. Viele Frauen gingen zwar fest davon aus, hätten ihre Männer aber nie gefragt, was sie eigentlich wollten. „Und ohnehin ist das größte Sexualorgan das Gehirn“, stellt sie fest. „Die Erregung entsteht dort.“ Hormone spielten ihrer Ansicht nach eine untergeordnete Rolle. „Gerade in der Sexualität geht es um so viel mehr als den Geschlechtsakt, nämlich um Körperkommunikation und die Erfüllung der Grundbedürfnisse“, erklärt die Ärztliche Direktorin.
„Dr. Barinoff hat mir wieder Mut gemacht“, sagt Sylvia Fischer. Sexualität sei wichtig für sie, um sich wieder gesund und nicht wie jemand zu fühlen, „bei dem schon alles vorbei ist“. Überhaupt habe die Krebserkrankung bei ihr dazu geführt, mehr auf sich selbst zu achten. „Vorher habe ich immer geschaut, was brauchen die anderen und wie kann ich helfen“, erzählt die Dresdnerin. „Ich war gar nicht richtig bei mir.“
Jetzt sei sie viel klarer darin, was sie wolle und was nicht. Das sei auch für die Menschen in ihrem Umfeld leichter. Sie sage sogar zu ihren Eltern, dass sie nicht vorbeikomme – das hätte sie sich früher als ‚gute Tochter‘ nie getraut. „Deshalb sehe ich die Krebserkrankung auch als eine Chance, mein Leben noch einmal zu überdenken“, sagt sie. „Diese Endlichkeit zu spüren, das hat man sonst einfach nicht.“
Nach drei Wochen Reha fühlt Sylvia Fischer sich nun wieder fit genug, um in ihren Berufsalltag zurückzukehren – sowohl körperlich, als auch auch psychisch. Denn auch das soll eine Reha wieder möglich machen: die Teilhabe am Erwerbsleben, die immer auch ein Stück zurückgewonnene Normalität bedeutet.
Nicht nur die psychologischen und psychoonkologischen Angebote der Ostseeklinik bieten bei der Krankheitsbewältigung und der Vorbereitung auf den Alltag im Job die nötige Hilfe an. Auch die landschaftliche Lage rund um das 1.000-Einwohner-Dorf Ückeritz selbst sei eine Kraftquelle, erzählen Rehabilitandinnen. Gleich hinter der Klinik führt eine Treppe die Steilküste hinab zum Sandstrand, an dem man lange Spaziergänge unternehmen und seine Gedanken schweifen lassen kann.
Hier ist auch Physiotherapeutin Franziska Arndt mit ihrer Nordic-Walking-Gruppe unterwegs. Es ist ein sonniger, frischer Morgen und die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden aus der Ostseeklinik haben ein ziemlich flottes Tempo drauf. „Die meisten lernen schnell, mit den Stöcken umzugehen“, weiß Franziska Arndt zu berichten. Durch die Stöcke werde auch die Oberkörpermuskulatur gefordert. „Nordic Walking ist bei Brustkrebs sehr geeignet, weil es die Lymphknoten anregt.“ Ihre Gruppe ist bereits an dem Punkt angekommen, an der sie abbiegt und durch den Wald zurückkehrt. Noch ein paar Dehnungsübungen vor dem Eingang, dann geht es weiter zu anderen Anwendungen.
„Dr. Barinoff hat mir beim Thema Sexualität wieder Mut gemacht.“
Sylvia Fischer,
Rehabilitandin
15 %
der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in der Rehaklinik Ostseeblick interessieren sich für den Vortrag „Was hat das Thema Sexualität in einer Rehaklinik verloren?“
Quelle: Rehaklinik Ostseeblick
Akzeptanz der Krankheit
Wie in jeder anderen Rehaklinik geht es auch in Ückeritz bei der rehabilitativen Krebsnachsorge um einen ganzheitlichen Ansatz. Dazu gehört neben dem sexualtherapeutischen Angebot auch ein umfangreiches Sportprogramm. Sport und Bewegung stärken die körperliche Konstitution, aber auch die Psyche; es wirkt wie ein leichtes Antidepressivum. Und wer eine Reha macht, soll für das Leben zurück im Job möglichst viel an Veränderungen mitnehmen können.
Um im Alltag wieder anzukommen, sagt Dr. Barinoff, muss die Rehabilitandin allerdings depressive Stimmungen überwunden haben und die Krebserkrankung akzeptieren. „Diese Akzeptanz ist ein Kopfstand für das Gehirn“, sagt sie. Aber er könne schlussendlich auch zu mehr Lebensqualität führen.
Infos - Lesetipps zum Thema Krebs und Sexualität
Die Gynäkologin und Sexualmedizinerin Dr. Jana Barinoff empfiehlt den Ratgeber „Weibliche Sexualität und Krebs“ des Krebsinformationsdienstes in Heidelberg. Außerdem gehören die Bücher „Paare und Krebs“ (Hans Jellouschek) und „Meine Frau/Mein Mann hat Krebs“ (Jochen Ernst, Tanja Zimmermann) zu ihren Lesetipps. Auch keine Lust zu haben sei völlig in Ordnung und in dem Buch „Sexfrei“ (Anica Plaßmann) sehr gut beschrieben.
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t1p.de/Klinik-Ostseeblick