Gewichtige Gründe

Ein sonniger Tag in einem kleinen Dorf im bayerischen Donau-Ries. Traktoren knattern über die Feldwege, Hunde bellen, hier und da wird ein Hof gekehrt. Hier ist der 16-jährige Maximilian Homann zu Hause. Vor drei Jahren hat zukunft jetzt mit ihm in der Fachklinik Gaißach gesprochen – eine Reha-Einrichtung für Kinder und Jugendliche der Deutschen Rentenversicherung. Der damals 13-Jährige war dort, weil er stark übergewichtig war und sich kaum bewegte. Nach vier Wochen Rehabilitation war er neun Kilo leichter. Doch wie würde es nach seiner Rückkehr ins Elternhaus weitergehen? Würde er wieder in die Spirale aus viel essen, wenig bewegen und stundenlangem Gaming geraten? Diese Sorge beschäftigte ihn während der Reha sehr. Zeit also, einmal bei ihm nachzufragen.

Vor Maximilians Elternhaus ist ausgelassenes Lachen zu hören. Ein in die Höhe geschossener Teenager rennt mit seinem Labradoodle Dudley um die Wette. Rennen? Maximilian? Der Junge, der zu Beginn seiner Reha höchstens 4.000 Schritte schaffte? Ja, genau der. Jeden Tag nach der Schule geht er eine Stunde mit dem Hund raus, das ist seine Aufgabe – und er erledigt sie pflichtbewusst. „Das muss man täglich machen, damit man mehr Bewegung in den Alltag integriert“, sagt Maximilian. „Dadurch fühle ich mich viel wohler in meinem Körper.“ Durch weniger Gewicht könne er jetzt auch Sachen unternehmen, „bei denen ich mich früher geschämt habe“. Wenn er mit Freunden ins Schwimmbad gehe, mache es ihm nichts mehr aus, dass andere seinen Körper sähen. „Früher habe ich das T-Shirt anbehalten. Für mich war der Knackpunkt, dass ich mich fast schon selbst nicht mehr anschauen konnte.“ Sein Körper sei ihm einfach überdimensioniert vorgekommen. „Ich wurde auch gehänselt. Das macht mehr mit  einem, als man in dem Moment denkt.“

7,1%

der Jungen zwischen 10 und 14 Jahren haben starkes Übergewicht (Adipositas). Bei den Mädchen dieser Altersgruppe sind es 5,8 Prozent. 

Quelle: gesundheitsatlas-deutschland 

Überraschend sportlich geworden

Maximilian ist selbstbewusst geworden und hat vor Kurzem eine Ausbildung zum Industriemechaniker angefangen. Er hat Freunde, schraubt an den Wochenenden an seinem Moped herum, spielt im örtlichen Tischtennisverein, nutzt das Waterrower-Rudergerät im Wohnzimmer und ab und zu geht er ins Fitnessstudio. Er ist heute so sportlich und aktiv, wie es während seiner Reha 2021 kaum vorstellbar war. Mit am Tisch sitzen die beiden Menschen, die einen maßgeblichen Anteil an dieser Erfolgsgeschichte haben: seine Eltern. Vater Michael Homann ging kurz nach Maximilian in die Reha, um ebenfalls abzunehmen. Er bringt mittlerweile über 50 Kilogramm weniger auf die Waage, Mutter Miriam Homann hat 35 Kilo  abgenommen. „Vom ersten Tag an, als Maximilian in der Reha war, haben wir mitgezogen. Er bekam in Gaißach nur rund 1.200 Kalorien am Tag, also haben wir auch nicht mehr gegessen“, sagt Michael Homann. Erst da haben sie erkannt, dass sie in ihrem vorherigen Leben die dreifache Menge zu sich genommen hatten. „Eigentlich hat sich das ganze Leben verändert.

Vor drei Jahren hat Maximilian vier Wochen in der Kinder- und Jugendreha in Gaißach verbracht. Zukunft jetzt sprach 2021 mit dem 
13-Jährigen. Seine Eltern haben ihn anschließend unterstützt, indem sie auch selbst angefangen haben, gesünder zu essen und sich mehr zu bewegen.

Wir haben rigoros umgestellt“, ergänzt seine Frau. Das heißt in der Praxis: drei exakt portionierte Mahlzeiten am Tag. Brot, Butter, Käse und Wurst wurden weitgehend vom Speiseplan gestrichen, Chips zum Fernsehen sind passé. „Mit dem verlorenen Gewicht kommt die Aktivität. Es gibt kein träges Wochenende auf der Couch mehr. Wir wandern, fahren Rad oder gehen an den See zum Stand-up-Paddeln“, erzählt Michael Homann. Vor ein paar Tagen sind sie mit einer befreundeten Familie 21 Kilometer weit durchs Altmühltal gewandert und haben dabei 500 Höhenmeter zurückgelegt. Bei so viel Bewegung ist dann zwischendurch auch ein Stück Kuchen und abends ein Hamburger drin.

„Der Idealfall ist, dass nach der Kinder- und Jugendreha die gesamte Familie mitzieht.“

Prof. Josef Rosenecker, Medizinischer Direktor an der Fachklinik Gaißach 

Angst vor dem Jo-Jo-Effekt

Auch Professor Josef Rosenecker freut sich über Maximilians Entwicklung. Er ist seit Jahresbeginn Medizinischer Direktor an der Fachklinik Gaißach, einem Zentrum für chronische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. „Die Kunst ist, dass die Kinder zu Hause nicht wieder zunehmen. Noch gibt es in dieser Hinsicht keine flächendeckenden Nachsorgeprogramme, deshalb sind gerade die Eltern gefordert, dass die Reha-Erfolge anhalten“, sagt er. „In den vier Wochen in der Rehabilitation nimmt eigentlich jedes Kind ein paar Kilo ab. Vor allem lernen sie viel über Ernährung und Lebensmittel. Außerdem schauen wir, dass sie Sport machen, bei dem sie sich nicht exponieren müssen und den sie auch zu Hause machen können.“ Es helfe außerdem, dass beim Spielen mit anderen Kindern, die ebenfalls mit Adipositas kämpfen, das Thema Body Shaming wegfällt. Neben der Diät – in Gaißach erhalten die Kinder 1.200 bis 1.800 Kalorien täglich – geht es vor allem um Bewegung. „Bewegung ist das Wichtigste. Doch das Sportprogramm sollte die Kinder nicht überfordern. Denn durch das Übergewicht sind die Gelenke und Bänder großen Belastungen ausgesetzt“, ordnet Josef Rosenecker ein. „Der Idealfall ist, dass nach der Reha die gesamte Familie mitzieht.“

Im eigenen Gewächshaus gezogenes Gemüse schmeckt doppelt so gut.

Die Homanns sind so ein Idealfall. Doch das Umkrempeln des gesamten Lebens ist eine logistische Herausforderung und auch ein Thema, das die Familie wohl ihr Leben lang begleiten wird. „Ich hatte Angst vor einem Jo-Jo-Effekt. Deshalb reden wir regelmäßig darüber. Wir müssen immer wieder mal nachjustieren“, beschreibt es Michael Homann. Hin und wieder geht auch bei ihnen der hart erarbeitete Fokus verloren: Als sie die Wohnung umgebaut haben, gab es ab und zu Leberkässemmel und der Sport kam zu kurz. Infolgedessen ging das Gewicht wieder nach oben. Also setzten sie sich zusammen und überlegten, was zuletzt nicht so gut geklappt hat, wo sie etwas verändern müssen. In der neuen Küche fällt die große Kochinsel auf. Hier stehen die Homanns jeden Sonntag für zwei Stunden zusammen und kochen für die anstehenden Werktage vor. Miriam Homann hat die Zügel in der Hand. Über eine App steuert sie, wie viel Kalorien sie pro Tag zu sich nimmt, und überträgt das auf die anderen  Familienmitglieder. Als Tagesbedarf hat sie 1.200 Kalorien angegeben und sie trägt ein, welche Lebensmittel sie verwendet. In 100 Gramm Makkaroni stecken beispielsweise 157 Kalorien, eine Karotte hat etwa 30 Kalorien, 100 Gramm Zucchini kommen auf 16 Kalorien und ein Esslöffel Ketchup hat 15  Kalorien. Daraus entwickelt sie den Essensplan für eine Woche. Gemeinsam wird gekocht, das Essen abgewogen und in Glasschalen verteilt, die dann im Kühlschrank verstaut werden. Eine Schale entspricht einer Mahlzeit. „Morgens gehe ich um sieben Uhr aus dem Haus und oft bin ich erst gegen 19 Uhr wieder daheim. Da habe ich keine Energie zu kochen. Die fertigen Portionen helfen enorm, nicht in alte Muster zu verfallen und zwischendurch schnell mal ein Wurstbrot zu essen“, erzählt die berufstätige Mutter.

Sonntags stellen die Homanns gemeinsam die Essensportionen für die Werktage zusammen – genau abgewogen und portioniert.

Es ist nicht so, dass Miriam Homann nicht auch schon vor Maximilians Reha in Gaißach frisch gekocht hätte. Aber er rührte weder Gemüse noch Salat an. Er aß zum Frühstück eben nicht eine Schüssel Müsli, sondern drei. „Was wir in Gaißach über Ernährung gelernt haben, das war für mich eine neue Welt“, sagt er. „Seit dieser Reha isst er fast alles“, ergänzt seine Mutter. Da sei ihm aber auch kaum etwas anderes übrig geblieben, denn in der Reha gab es nur das, was auf dem Teller war. Entscheidend sei wahrscheinlich gewesen, dass die Betreuer in der Rehaklinik gesagt hätten, er solle mal dieses oder jenes probieren – und siehe da, Maximilian fand es gar nicht so übel. „Manchmal braucht es den Impuls von außen.“

2021 schaffte Maximilian kaum 4.000 Schritte. 
Heute sind Sport und Bewegung in seinen Alltag integriert.

INFO - Fit für die Zukunft

Kinder- und Jugendreha ist eine Leistung der Deutschen Rentenversicherung. Denn auch junge Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen haben ein Recht auf einen guten Start ins Berufsleben. Das Angebot ist für Kinder und Jugendliche mit Gewichts- und Bewegungsproblemen ebenso konzipiert wie für jene mit chronischen Leiden wie Diabetes oder schweren Allergien und seltenen Erkrankungen wie der Schmetterlingskrankheit. Einige Rehakliniken haben sich auf psychosomatische Symptome spezialisiert, andere auf neurologische Erkrankungen. Kurzum: Von ADHS über Asthma bis zu schwerem Übergewicht kann eine Reha helfen, wieder regelmäßig zur Schule gehen zu können und später gut für das Arbeitsleben vorbereitet zu sein. Antragsteller sind die Erziehungsberechtigten. Kinder unter zwölf Jahren können zur Reha von einem Elternteil oder einer anderen engen Bezugsperson begleitet werden. Während der zumeist vierwöchigen Reha – bei Bedarf auch länger – werden die jungen Rehabilitanden außerdem in den Hauptfächern unterrichtet. 

Mehr Infos unter: 
t1p.de/DRV-Kinder-und-Jugendreha