Herr Professor Münkler, auf der Vertreterversammlung der Deutschen Rentenversicherung Bund im Juni warnten Sie nachdrücklich vor aktuellen Gefahren für die Demokratie. Worin bestehen sie?
Prof. Herfried Münkler Demokratien sind, weil sie offene Gesellschaften sind, Angriffen stark ausgesetzt. In Zeiten der modernen Kommunikationsmedien bestehen Angriffe von außen vor allem in Desinformationskampagnen. Die Demokratien sind aber auch von innen bedroht. Etwa, weil Verschwörungstheorien verbreitet oder mit Fehlinformationen Unsicherheit geschürt wird. Die eigentliche Bedrohung aber ist eine Mischung aus Sorglosigkeit und Desinteresse, die sich in der Bevölkerung einstellt, die seit 80 Jahren in Frieden, Freiheit und Wohlstand lebt.
Demokratie lebt vom Engagement jedes Einzelnen. Hat sich diesbezüglich etwas in der letzten Zeit verändert?
Wir erleben einen Rückgang des demokratischen Engagements. Generell gesagt: Wenn ein Land aus einer nicht demokratischen Struktur herauskommt, ist die Bereitschaft, sich zu engagieren und es besser zu machen als vorher, relativ groß. Das konnte man in Westdeutschland nach 1945 und 1989 in den neuen Bundesländern beobachten. Aber dann kommen die Mühen der Ebene: die ständige Anforderung an das Individuum, sich zu engagieren. Das Berufsleben verändert sich, die Zeit wird knapper. Die Erwartungshaltung an die Politik steigt. Das ist ein fundamentales Missverständnis der Demokratie. Natürlich muss man auf den Output, auf die Ergebnisse, schauen. Aber im Zentrum steht der Input, nämlich die Bereitschaft der Bürger, sich für ihr Gemeinwesen zu engagieren, gemäß der berühmten Formulierung von John F. Kennedy: „Denke nicht darüber nach, was dein Land für dich tun kann, sondern über das, was du für dein Land tun kannst.“ Darauf beruht diese anspruchsvolle Form der politischen Ordnung: die Demokratie.
Wie könnte man politisches Engagement attraktiver machen?
Das geht meiner Ansicht nach nicht, indem man noch einmal 10 oder 20 Euro auf die Ehrenamts-Aufwandsentschädigung drauflegt. Stattdesmüssen Unternehmen bereit sein, Kompetenzen, die sie bei sich entwickelt haben, dem Gemeinwesen zur Verfügung zu stellen. Und es gibt sicherlich welche – die Deutsche Rentenversicherung gehört da natürlich dazu –, die ihren Mitarbeitenden das ermöglichen. Leider gibt es aber auch Betriebe, die es nicht gerne sehen, wenn Zeit und Energie und Kreativität in andere Felder fließen.
„Es ist eine ernste Sache, sich um das Gemeinwesen zu kümmern.“
Wie ließe sich die Demokratie für alle besser zugänglich machen?
Dazu hätte ich zwei Vorschläge. Erstens: Ergänzend zur Wahl könnte man ein Losverfahren einführen. Das Los ist das eigentliche demokratisch-egalitäre Verfahren, denn es weiß nicht, wen es trifft. Man könnte sagen, man wählt innerhalb eines Stadtteils oder eines Bezirks eine bestimmte Gruppe per Los aus. Diese Gruppe müsste dann ein ganz konkretes, vor Ort vorherrschendes Problem lösen, dessen Lösung hinterher etwa von der Bezirks- oder Stadtverordnetenversammlung übernommen wird. Ein einfaches Beispiel: „Bauen wir einen Kindergarten oder bauen wir ein Altenheim?“ Wenn eine Kommune nicht genügend Geld hat, könnte das eine wichtige Frage sein. Auf diese Weise ließen sich, um es in der Begrifflichkeit meiner hessischen Heimat zu sagen, „die Ecken der ewigen Besserwisser auflösen“. Denn jetzt heißt es: Dich kann das Los treffen, und dann musst du mitentscheiden, ohne Ausrede. Und hinterher hast du das auch gegenüber deinen Mitbürgern zu vertreten. Also, der Vorschlag lautet: Ernst machen mit der Vorstellung, dass in einer Demokratie prinzipiell alle gleich und gleichgewichtig sind.
Ist es wirklich vorstellbar, dass eine Regierung durch Los bestimmt wird?
Ich würde das nicht auf der Bundesebene wollen, aber auf kommunaler Ebene oder vielleicht sogar auf Länderebene ließe sich in dieser Richtung sicher das eine oder andere ausprobieren, um den Menschen vor Augen zu führen: Es ist eine ernste Sache, sich um das Gemeinwesen zu kümmern. Und es ist vor allen Dingen keine Angelegenheit, angesichts derer man nur auf der Chaiselongue sitzt und kommentiert, was einem nicht gefällt.
Und der zweite Vorschlag?
Eine Alternative dazu, oder vielleicht auch eine Ergänzung, wäre eine bestimmte Form der Volksabstimmung nach dem Schweizer Typ. Ein schönes Beispiel hat mir ein Kollege aus St. Gallen erzählt. Dort gab es eine Volksabstimmung über einen Erweiterungsbau der Universität. Da musste man schon gute Gründe und gute Argumente vorbringen, um auch die Regionen mit einer geringen Studierendenrate zu überzeugen. Alle mussten sich intensiv mit den Folgen und Nebenfolgen der Volksabstimmung beschäftigen. In der Schweiz bekommt man ja auch relativ umfangreiche Informationsschriften dazu, in denen das Für und das Wider sowie mögliche Konsequenzen dezidiert aufgelistet sind.
Ehrenamtliches Engagement ist das Lebenselixier der sozialen Selbstverwaltung, etwa bei der Rentenversicherung. Ein wichtiger Baustein unserer Demokratie?
Ich halte das Rentenversicherungssystem mit der sozialen Selbstverwaltung für eine zentrale Stütze der Demokratie. Es trägt eine Seite der Demokratie, die man im weitesten Sinne als Sozialordnung oder Sozialstaat bezeichnet. Zudem lebt es vom Engagement der Selbstverwalter. Hier fällen Ehrenamtliche wichtige Entscheidungen: in den Bereichen Finanzen, Personal, Leistungen, Organisation, Rehabilitation oder in Widerspruchsausschüssen. Versichertenberater helfen in der Nachbarschaft – das ist gelebte Demokratie.
Herr Professor Münkler, wie wollen wir das Gespräch beschließen?
Gerne mit einer Respektbezeugung gegenüber denen, die sich für die Demokratie engagieren. Für die Zeit, die sie dafür opfern. Für ihre Anstrengung und für ihre Bereitschaft, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.
INFO - Rentenversicherung stärkt Demokratie
Die Deutsche Rentenversicherung Bund ist ein stabilisierender und integrierender Garant des Sozialstaats. Sie bietet allen Versicherten, Rentnerinnen und Rentnern Leistungen ungeachtet von Geschlecht, Herkunft oder Religion. Mit ihrer sozialen Selbstverwaltung ist sie ein elementarer Bestandteil der Demokratie und setzt sich mit über 26.000 Beschäftigten aktiv für ein respektvolles Miteinander ein.
Der Vortrag im Internet
Der Vortrag, den Professor Herfried Münkler auf der 3. ordentlichen Sitzung der Vertreterversammlung der Deutschen Rentenversicherung Bund am 10. Juni 2024 in München gehalten hat, kann in voller Länge hier angeschaut werden:
t1p.de/DRV-Vertreterversammlung2024