Von ihrem Büro aus kann Rebecca Handke die Walzen sehen. Sie beobachtet die Monteure, die daran schrauben, Teile fräsen oder Schaltschränke verkabeln. Ihr Job ist es, für all das Worte zu finden, jedes Bauteil zu beschreiben. Sie ist technische Redakteurin beim Traditionsbetrieb Deguma in dem thüringischen Stadt Geisa. Sie schreibt die Betriebsanleitungen der Walzwerke, die das Unternehmen für die Kautschukindustrie baut. Bei einer modernen Maschine kommen leicht mal drei Leitz-Ordner zusammen.
Wenn Handke an einem Freitag aus dem Bürofenster schaut, bewegt sich nichts. An diesem Tag steht die Produktion still, seit ihr Betrieb im Frühjahr 2023 die Vier-Tage-Woche eingeführt hat. Sie selbst hat immer montags frei. Sechs Stunden weniger arbeiten in der Woche bei gleichbleibendem Lohn: Als Handke das erste Mal davon gehört hat, stand ihr der Mund offen, erinnert sie sich.
Weniger Teilzeit nötig
Das erleichtere den Alltag enorm, sagt sie. Handke hat drei Kinder, zwei davon sind noch im Kindergarten. Die Familie baut gerade ein Haus um. Dazu kommt noch der Golden Retriever. Da ist jede Stunde kostbar. Auch, wenn man an die Rente denkt. Jahrzehntelang lief es in deutschen Familien meist so: Der Mann machte Karriere. Die Frau blieb zu Hause oder arbeitete Teilzeit, um sich um die Kinder zu kümmern. Weil sie weniger arbeitete, zahlte sie weniger in die Rentenkasse ein. Das Ergebnis: Die Alterseinkünfte von Frauen liegen unter denen von Männern. Das nennt man Gender-Pension-Gap – die geschlechtsspezifische Rentenlücke. Die Vier-Tage-Woche mit vollem Lohnausgleich könnte diese Lücke schmälern.
Und es geht nicht nur ums Alter, sondern auch um die Lebensqualität im Hier und Jetzt. Zuletzt zeigte eine groß angelegte Studie der Universität Cambridge und des Boston College im Jahr 2023 die Vorteile der Vier-Tage-Woche auf. Nach einem sechsmonatigen Pilotprojekt – dem größten weltweit – wollten 56 der 61 beteiligten Firmen in Großbritannien das Arbeitszeitmodell beibehalten. Die Zahl der Fehltage ist in dieser Zeit um 65 Prozent zurückgegangen. Außerdem haben 57 Prozent weniger Mitarbeiter ihr Unternehmen verlassen. Gleichzeitig hat die Produktivität nicht unter der reduzierten Arbeitszeit gelitten, sondern stieg sogar leicht an. Ähnliche Versuche werden auch in Belgien, Island und Australien durchgeführt.
72,6 % der Menschen in Deutschland wünschen sich eine Vier-Tage-Woche.
Die Menschen sind offensichtlich zufriedener und motivierter im Job sowie zudem gesünder. Deshalb wollen Gewerkschaften die Vier-TageWoche.
Viele Arbeitgeberverbände halten dagegen: Fachkräfte fehlen sowieso schon – und jetzt sollen die auch noch weniger arbeiten? Dabei versuchen sich manche Unternehmen an der Vier-Tage-Woche, um attraktiver zu sein und genau die fehlenden Fachkräfte anzulocken. Das mag in einer Softwarefirma in der Stadt einfacher sein, wo Arbeitszeitmodelle sowieso schon flexibel sind. Bei einem Maschinenbaubetrieb in der thüringischen Provinz erwartet man die Vier-Tage-Woche nicht.
Doch bei Deguma läuft manches anders, seit Viktoria Schütz die Geschäftsführung von ihrem Vater übernommen hat. Man erreicht sie in einer Art Co-Working-Space für Familienunternehmer in Berlin. Von hier aus leitet sie den Betrieb. Ein, zwei Wochen im Monat pendelt sie nach Geisa. Seit Jahren denkt sie darüber nach, wie der Mensch künftig arbeiten sollte, erzählt sie. „Früher hat der Mann 100 Prozent gearbeitet, die Frau kümmerte sich 100 Prozent um Haushalt und Kinder. Jetzt sollen beide voll arbeiten und der Haushalt und Kinder irgendwie mitlaufen. Das kann doch nicht funktionieren“, sagt sie. „Es ist doch sinnvoll, die Vollzeit-Arbeitszeit für alle so zu reduzieren, dass die Vereinbarkeit möglich ist.“
„Als ich bei uns von der Vier-TageWoche hörte, stand mir erst mal der Mund offen.“
Rebecca Handke,
Mitarbeiterin bei Deguma
Als es darum ging, ob sie in das Familienunternehmen einsteigt, habe sie gesagt: „Okay, ich mache es – aber unter meinen Bedingungen.“ 2019 übernahm sie das Unternehmen und holte Daniela Dingfelder als Co-Chefin mit ins Boot. Sie führten flache Hierarchien ein, Homeoffice, wo es geht, das Duzen. Diese Kultur zog Rebecca Handke an. Früher hat sie bei einem klassischen Automobilzulieferer gearbeitet, da habe der Chef seine Runden gedreht und überprüft, dass auch bloß niemand zu lange Pause macht. „Wer viele Überstunden machte, war ein guter Mitarbeiter“, erinnert sie sich. 2022 bewarb sie sich bei Deguma, als sie hörte, dass es auch anders geht.
Weniger Stunden, gleiche Leistung
Die Produktion steht freitags still, Handke hat montags frei. Manchmal erschwert das die Absprachen, sie überlegt immer zwei Mal, wann genau sie welche Information von welchem Kollegen braucht, wenn sie ihre Anleitungen schreibt. Vier-Tage-Woche heißt eben auch, dass an vier Tagen die gleiche Arbeit geleistet werden muss wie an fünf. Deshalb feilt Deguma ständig an den Arbeitsstrukturen, verkürzt Besprechungen oder lagert sogar den Bau mancher Teile aus. Das Team probiert aus, wirft Konzepte über den Haufen, versucht sich an neuen.
Was bei Deguma funktioniert, lässt sich nicht verallgemeinern.
Positive Ergebnisse in Studien ließen sich nicht verallgemeinern, betont Norbert Bach von der Technischen Universität Ilmenau. Mit seinem Team begleitet er wissenschaftlich den Versuch bei Deguma. Bei einem kleinen Maschinenbauer gebe es viele Stellschrauben, um schneller zu arbeiten. Anders sei das aber bei Industrien mit starkem Wettbewerbsdruck.
In der Automobilindustrie zum Beispiel sei die Effizienz sowieso schon am Anschlag. Dort würde die Vier-Tage-Woche bedeuten, dass Bänder stillstehen. Oder dass die betreffenden Unternehmen mehr Mitarbeiter einstellen müssten, damit die Maschinen weiterlaufen können. Diese Fachkräfte gibt es bekanntermaßen nicht. „Ich bin skeptisch, ob es betriebswirtschaftlich umsetzbar ist, die Arbeitszeit zu verkürzen“, sagt Bach. Die Mitarbeiter bei Deguma stellen sich gerne um, für einen freien Tag mehr. Ein junger Kollege hat nun mehr Zeit für die Freiwillige Feuerwehr, ein anderer will noch mal studieren gehen. Handke erledigt Behördengänge oder geht mit den Kindern zum Arzt. „Wenn eine der Kleinen krank ist, muss ich mir montags schon keine Gedanken darum machen, wer sich kümmert“, sagt sie. Sie selbst gehe gern joggen im Wald, der Hund begleitet sie dabei. Auch dafür habe sie während der Fünf-Tage-Woche kaum Zeit gehabt.