Das andere Glück

Mir ist das Glück nicht gerade zugeflogen“, sagt Andrea Kick. Glück hatte sie fast nur im Unglück. Als sie acht Jahre alt war, hatte sie einen schweren Fahrradunfall. Leberriss, Lebensgefahr, doch sie war schnell im Krankenhaus. Außer einer Narbe gab es keine bleibenden Schäden. Die Eltern ließen sich scheiden, da war sie 14. Sie litt nicht sehr darunter – schön war es trotzdem nicht.

Feilen an der Karriere…

Nach ihrem Abitur in Frankfurt (Oder) wollte sie ein Studium als Restaurateurin anfangen, handwerkliche Tätigkeiten machen ihr Spaß. Für das Studium an der Fachhochschule Potsdam wurde ein Vorpraktikum verlangt – aber ein Jahr umsonst arbeiten? Lieber machte sie eine Ausbildung in einer Tischlerei und wurde Tischlergesellin. „Holz ist ein sehr dankbarer Werkstoff, man kann viel damit verwirklichen. Außerdem ist es ein nachwachsender Rohstoff“, schwärmt sie. Vor Werkzeugen und handwerklichen Dingen hat sie keine Scheu, sie packt an und legt los. Sie fing an, Holztechnik zu studieren. Das war ihr aber zu technisch, Materialprüfungen und Statik mochte sie nicht. Dann lieber wieder Restaurateurin. Und wieder kein Glück: Ihre Lehre wurde nicht als Vorpraktikum anerkannt. Also doch noch ein Jahr praktisch unbezahltes Praktikum in einer Restaurierungs-Werkstatt. Immerhin machte es ihr Spaß. Im dritten Anlauf ging 2013 ihr Studium der Restaurierung los. Endlich ging es um Themen wie Kunstgeschichte, Architektur, Vergoldung.

… und am Privatleben

Beim Tanzen verliebte sie sich in einen Potsdamer Studenten, sie zogen zusammen. 2015 wurde Ansgar geboren, ein Wunschkind. Andrea Kick nahm erst einmal ein Urlaubssemester, dann noch zwei. Irgendwann sah sie den Realitäten ins Auge – und musste ihren Traum an den Nagel hängen: „Es gibt leider fast nur noch selbstständige Restauratoren. Ich hätte eine eigene Werkstatt gebraucht, mir einen Kundenstamm aufbauen und mir einen Namen machen müssen. Wo wäre da das Kind geblieben?“ Ihr Partner hatte jetzt zwar einen Studienabschluss als Militärhistoriker, fand aber keine Arbeit. Die Familie lebte zum Teil von Hartz IV. 2018 fing sie etwas an, was sie sich zuvor nicht hatte vorstellen können: eine Ausbildung zur Sozialversicherungsfachangestellten bei der Deutschen Rentenversicherung BerlinBrandenburg. Zunächst in Vollzeit, aber der Druck war zu stark. Das erkannte zuerst Adolfo Blasius. Ihr damaliger Ausbildungsleiter wusste um ihre private Situation: „Sie hat sich überfordert. Das war ihr anzusehen.“ Er ging auf sie zu: Ob sie die Ausbildung nicht in Teilzeit absolvieren wolle? Andrea Kick dachte nach, dann sagte sie zu. Sie hatte auch wieder mal kein Glück gehabt – inzwischen war sie alleinerziehend. Im letzten Ausbildungsjahr brachte ihr die Tischlergesellin tatsächlich etwas: Sie wurde von der Berufsschulpflicht befreit.

Das Eltern-Kind-Zimmer
braucht Andrea Kick heute
nicht mehr: Sie arbeitet
meist von zu Hause aus.

„Glück? Mit mir im Reinen zu sein, zu wissen: Mir geht es gut.“

Andrea Kick,
Sachbearbeiterin bei der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg

Anders als gedacht

Heute ist sie Rentensachbearbeiterin. Sie schreibt unter anderem Stellungnahmen zu sogenannten Sondersachverhalten. Da geht es zum Beispiel um Spätaussiedler aus der früheren Sowjetunion. „Das ist sehr umfangreich, zeitaufwendig und anstrengend. Ich merke oft, dass mir die Routine noch fehlt.“ Adolfo Blasius ist trotzdem zufrieden mit ihr: „Wir bieten Alleinerziehenden gern an, nach der Probezeit schon in der Ausbildung in Teilzeit zu gehen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sie sehr dankbar und später sehr motiviert sind. Das war und ist auch bei Andrea Kick so.“ Beruflich, sagt sie, sei sie zufrieden und froh, mit ihrer Arbeit mittelbar Menschen helfen zu können. Was bedeutet Glück heute für sie? „Mit mir im Reinen zu sein, zu wissen: Mir geht es gut. Wenn ich kein Unbehagen und keinen Druck habe, wenn es der Familie gut geht und ich Ansgar auch mal etwas schenken kann, was über Liebe hinausgeht“, sagt sie, und: „Ansgar ist ein gesundes Kind, auch das ist Glück.“ Ihr beruflicher Werdegang bis zur Rentenversicherung war nicht geradlinig, aber sie ist dankbar: „Die soziale Absicherung ist nicht zu verachten – ich habe einen krisenfesten Job und muss mir keine Gedanken machen, was nächsten Monat sein wird. Von zu Hause aus arbeiten zu können von 5 bis 21 Uhr, die Flexibilität, die das bringt – das ist wirklich ein Segen. Wenn ich beim Kuchenbasar in der Schule bin, fragen mich andere Eltern: Du bist doch berufstätig, wie machst du das? Als Tischlerin oder als Restaurateurin wäre das nicht gegangen.“ Das Glück könnte ihr nun also doch zugeflogen sein.