Frau Dr. Hümmelgen, macht Bewegung uns glücklich?
Bewegung lässt uns nicht nur länger leben, sondern auch viel glücklicher. Bewegung und Sport wirken enorm stimmungsaufhellend – wie ein leichtes Antidepressivum. Gerade bei Patienten mit Depressionen und Angststörungen ist es ein fester Bestandteil unserer Therapie.
Wieso ist Bewegung so ein gutes Heilmittel?
Der Mensch ist für Bewegung gemacht. Er ist nicht dafür gemacht, auf dem Sofa zu sitzen, Pizza zu essen und Fernsehen zu schauen. Inaktivität ist das Schlimmste, was wir unserem Körper antun können. Sehr schnell wird die Muskulatur abgebaut und unser Herz-Kreislauf-System ist nicht mehr leistungsfähig.
Wie viel Sport und Bewegung schaffen Sie denn in ihren Berufsalltag zu integrieren?
Da ich als Ärztin voll berufstätig bin und zwei Kinder habe, integriere ich so viel Bewegung wie möglich in meinen Alltag. Ich gehe, wenn immer möglich, zu Fuß, nehme grundsätzlich die Treppe statt des Aufzugs und gehe abends noch mal laufen, egal wie sehr das Sofa ruft und lockt. Viel Bewegung im Alltag ist oft noch wichtiger als ein ausgefeiltes Sportprogramm. Jeder Schritt und jede Treppe zählt.
Wer krank ist, versucht sich meist zu schonen. Ist das insbesondere mit Blick auf Menschen mit Post-COVID ein falscher Impuls?
Während einer akuten Infektion ist es genau richtig. Da gehört man ins Bett. Bei Post-COVID aber geht es um Menschen, die nach drei Monaten immer noch Beschwerden haben, die sie im Alltag einschränken. Viele Patienten klagen über gestörte Atemmuster, Husten bei Belastungen, Pulsrasen, Erschöpfung und Müdigkeit.
Handelt es sich bei dieser Erschöpfung um das viel diskutierte Fatigue-Syndrom?
Das muss gut voneinander abgegrenzt werden: Die Fatigue ist zunächst ein Symptom und nicht zu verwechseln mit dem chronischen Fatigue-Syndrom mit klar definierten Diagnosekriterien. Man kann sie aber durch Gespräche mit den Patienten gut von Post-COVID unterscheiden. Letztere sind oft auch einfach nur kaputt und müde durch eine lange Inaktivitätsphase. Wie unsere Mütter schon sagten: Das Bett zehrt. Die Folgen dieses Trainingsmangels unterscheiden sich von anderen Krankheitsbildern.
„Viel hilft viel – dieser Ansatz ist bei Post-COVIDPatienten falsch.“
Dr. Melanie Hümmelgen
Ärztliche Direktorin der Mühlenbergklinik
Wie kann Bewegung nützlich sein?
Die Symptomatik ist komplex, doch viele Symptome bekommen wir in der Rehaklinik mit Sport und Bewegung ganz wunderbar therapiert. Wir müssen nur dafür sorgen, dass es ein sehr individuelles Bewegungskonzept ist, denn das eine Sportprogramm passt nicht für alle.
Sind Post-COVID-Patienten mit Sport nicht überfordert?
Sport beginnt mit Bewegung im Alltag. Die meisten denken, sie müssten gleich aufs Fahrrad oder in die Muckibude und loslegen. Doch es geht nicht darum, an die maximale Belastungsgrenze heranzugehen. Viel hilft viel – das ist hier falsch. Häufig fangen wir mit zehn Minuten Spazierengehen an und steigern die Belastung ganz langsam. Es geht hier um eine sehr individuelle Begleitung, denn eine Überforderung müssen wir unbedingt vermeiden. Auf diese Weise kann man bei Post-COVID sehr viel erreichen.
Was ist in der Reha für Post-COVID-Patienten besonders schwierig?
Viele haben das Gefühl, sich auf ihren Körper nicht mehr verlassen zu können. Gerade Betroffene im mittleren Lebensalter sind es nicht gewohnt, dass bei ihnen etwas nicht funktioniert. Dieses Vertrauen in den Körper zurückzugewinnen – das klappt in den Rehakliniken besonders gut, denn hier kommen viele Experten unter einem Dach zusammen: die Sportwissenschaftler und die Sportlehrer, die Physio- und Ergotherapeuten genauso wie unsere Psychologen, die sich unter anderem um die Krankheitsverarbeitung kümmern. Sportarten wie Yoga helfen dabei beispielsweise sehr gut.
Post-COVID-Patienten haben oft Probleme beim Atmen. Wie helfen Sie ihnen?
Die Atmung steht im Mittelpunkt der Therapien. Nur einige wenige Patienten leiden an einem Lungenschaden. Die meisten haben ein gestörtes Atemmuster. Mit Physio-, Ergo- und Atemtherapie sowie Yoga, Qigong und autogenem Training lassen sich deutliche Verbesserungen erreichen. Die Patienten atmen anschließend viel freier, tiefer und bewusster als vorher. Gerade beim Herz-Kreislauf-Training kann man schon nach vier Wochen Verbesserungen sehen; die Herzfrequenz sinkt wieder, auch unter Belastung.
Wo setzt die psychologische Hilfe an?
Es geht darum, die Energie, die man hat, besser einzuteilen. Wenn ich weniger belastbar bin, kann ich nicht gleichzeitig berufstätig sein, das Haus umbauen, die Oma pflegen, die Kinder versorgen und noch ehrenamtlich tätig sein. Wir besprechen mit den Patienten, wie sie ihre Belastungen im Alltag reduzieren können. Wir vermitteln „Pacing“ als Technik. Das bedeutet: Wie gehe ich mit meinen verminderten Kraftreserven um, plane Pausen ein und takte meinen Tag richtig, um mich nicht zu überfordern? Ob die Patienten in der Zukunft wieder voll belastbar sein werden, wissen wir nicht. Was wir ihnen aber auf jeden Fall versichern können, ist: Es wird besser. Alle Daten deuten darauf hin, dass die Zeit auf ihrer Seite ist.
Wird Bewegung als Heilmittel unterschätzt?
Bewegung ist für mich das wichtigste Heilmittel, das ohne Nebenwirkungen bei den allermeisten Erkrankungen funktioniert – sowohl in der Prävention als auch in der Therapie.
Bewegungstherapie
Post-COVID-Patienten brauchen ein langsam ansteigendes, sehr individuelles Therapieprogramm.
Atemtherapie
Post-COVID-Patienten lernen, bewusster zu atmen und die Lungenfunktion zu verbessern.
Psychotherapie Die Krankheit zu verarb
Die Krankheit zu verarbeiten und dem Körper wieder zu vertrauen, ist für Post-COVID-Patienten ein wichtiges Therapieziel.
Mehr Informationen zur Reha: t1p.de/DRV-Reha-PostCovid
Daten & Fakten: Fatigue
Das Symptom Fatigue bezeichnet eine außerordentliche und unverhältnismäßige Müdigkeit bei mangelnden Energiereserven. Sie kann nach unterschiedlichen Erkrankungen auftreten, z. B. nach Krebs bzw. der entsprechenden Therapie, bei Multipler Sklerose, aber auch nach COVID19. Fatigue ist bei Post-COVID sehr häufig. Davon abzugrenzen ist das Chronische Fatigue Syndrom (CFS), teils auch als Myalgische Enzephalomyelitis (ME)/CFS bezeichnet. Dies ist eine Krankheit, die nach Infektionen auftreten kann, dazu gehört auch COVID-19. Nach Belastungen unterschiedlicher Art kann bei ME/CFS eine langanhaltende Post-Exertionelle Malaise (PEM) auftreten. Dies beschreibt die Verschlechterung der vorbestehenden Symptome, von Betroffenen auch als „Crash“ bezeichnet. Durch Gespräche und engmaschige Beobachtung lassen sich Post-COVID und ME/ CFS voneinander abgrenzen. Viele Post-COVID-Betroffene fürchten sich vor ME/CFS und belasten sich gar nicht mehr, doch unter ME/CFS leidet nur ein geringer Anteil. In der Rehabilitation geht es darum, die eigenen Belastungsgrenzen zu kennen und beim Training zu berücksichtigen (sog. Pacing). Bei vielen Betroffenen lässt sich dadurch die Belastbarkeit nach einer längeren Inaktivitätsphase wieder schrittweise steigern.