Melanie Moses fand die Umschulung mit KI sehr effektiv.
Melanie Moses fand die Umschulung mit KI sehr effektiv.



Kann KI auch sozial?

Melanie Moses setzt die Virtual-Reality-Brille auf und taucht ab in eine andere Arbeitswelt. Auf dem Display vor ihrem rechten Auge sieht sie ein Video, das ihr erklärt, wie man Schutzhüllen an Netzwerkkabeln befestigt. Eine Technik, die sie für ihre Ausbildung zur Fachinformatikerin beherrschen muss. In der Hand hält sie ein echtes Kabel und führt die vorgegebenen Schritte gleichzeitig aus. Die an der Brille befestigte Minikamera registriert ihre Handgriffe und eine Software prüft zugleich, ob sie die Arbeiten richtig ausführt. Wenn Melanie Moses ein falsches Werkzeug zur Hand nimmt, erhält sie einen Hinweis auf dem Headset. Über ein Mikrofon kann sie der smarten Software selbst Anweisungen geben, um sich zum Beispiel Videosequenzen noch einmal anzusehen.

Die 45-Jährige hat vor Kurzem eine Umschulung beim Berufsförderungswerk München gemacht. Dabei durfte sie, als eine der Ersten, die mit smarter Software gesteuerte Datenbrille nutzen. Heute kehrt sie zu ihrem Ausbildungsplatz zurück, um über ihre Erfahrungen zu berichten. Mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) habe sie schneller lernen können, sagt sie. „Niemand hat mir das Lerntempo vorgegeben.“ Und es habe obendrein großen Spaß gemacht.

„Bei der Umschulung mit der KI hat mir niemand das Lerntempo vorgegeben.“

Melanie Moses (45), Fachinformatikerin

Das Beispiel ist eines von vielen, die zeigen, wie sich die Arbeitswelt durch den Einsatz von KI verändert. Die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine wurde im Berufsförderungswerk München zunächst im Rahmen eines Versuchs getestet. Doch bald schon könnte diese Technologie zum Alltag gehören und eine tiefgreifende Transformation auslösen.

Sie würde weit über das hinausgehen, was der digitale Wandel in den vergangenen Jahrzehnten gebracht hat. Denn bislang wurden vor allem Arbeitsschritte automatisiert. Roboter lackieren Autos, packen Kartons oder füllen Getränke in Flaschen. Künstliche Intelligenz geht viel weiter. Sie soll ermöglichen, dass Mensch und Maschine Informationen austauschen. Mittlerweile sind IT-Systeme in der Lage, so viele Daten gleichzeitig zu erfassen und auszuwerten, dass sie menschliches Verhalten nicht mehr nur nachahmen, sondern Texte, Bilder und  Musik erschaffen können. 

Josef Galster, Berufsförderungswerk München
Cornelius Zeitlmann, Berufsförderungswerk München

Neue technologische Revolution

Manche vergleichen den Erfolg der Künstlichen Intelligenz mit der durch das Internet in den 1990er-Jahren eingeleiteten Umwälzung, die sich durch alle Branchen zog. So schätzt der Internationale Währungsfonds, dass sich 60 Prozent aller Arbeitsplätze durch die KI verändern werden. Obwohl es die Sorge gibt, dass persönliche Daten nicht geschützt sein könnten oder die KI dazu führt, dass Menschen fremdbestimmt werden, begrüßen weite Teile der Arbeitswelt den Einsatz intelligenter Software. Bei einer Umfrage der Industrieländerorganisation OECD von 2023 gaben 63 Prozent der Befragten an, dass sie dank der Künstlichen Intelligenz mehr Freude an der Arbeit haben

Das sehen die Verantwortlichen des Münchner Berufsförderungswerks ähnlich. Die Bildungseinrichtung hat den Auftrag, Menschen mit gesundheitlichen Problemen wieder in eine sozialversicherungspflichtige Arbeit zu bringen – zum Beispiel durch eine neue Berufsausbildung. Kostenträger sind die Deutsche Rentenversicherung, Berufsgenossenschaften oder die Agentur für Arbeit. Wer an den Maßnahmen teilnimmt, soll wieder fit gemacht werden für den Arbeitsmarkt. Menschen mit einer Behinderung sind genauso dabei wie Leute, die beispielsweise nach einer Krebserkrankung oder einer Rückenoperation einen neuen Beruf lernen wollen oder müssen. „Zu uns kommen Menschen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen“, sagt Ausbildungsleiter Josef Galster. Der Einsatz Künstlicher Intelligenz hilft ihnen nicht nur, das geeignete Lerntempo zu finden, sie können auch jederzeit Fragen stellen oder den virtuellen Unterricht unterbrechen, um sich kurz zu bewegen.

Die KI bietet viele Einsatzmöglichkeiten bei Menschen, die sich beruflich neu orientieren. 
Ausbildungsleiter Josef Galster (links) und Melanie Moses mit IT-Ausbildungsleiter Cornelius Zeitlmann.

Schnelle Rehabilitation im Beruf

Das kann beispielsweise für Menschen mit Rückenschmerzen wichtig sein. Melanie Moses etwa arbeitete 20  Jahre lang als Kauffrau im Einzelhandel. Nach massiven Bandscheibenproblemen konnte sie nicht mehr im Laden stehen und war sehr lange krankgeschrieben. Die Agentur für Arbeit vermittelte ihr die Ausbildung zur Fachinformatikerin für Systemintegration, die ihr die Möglichkeit gibt, auf rückenschonendere Art zu arbeiten. Und die Stellensuche ging dann im Handumdrehen: Sie konnte beim Berufsförderungswerk bleiben, wo sie nun als  Netzwerkadministratorin arbeitet. 

„KI-Assistenzsysteme können nach wenigen Jahren schon veraltet sein.“

Cornelius Zeitlmann, IT-Ausbilder beim Berufsförderungswerk München

Die Datenbrille nutzte Melanie Moser im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts KI.ASSIST, an dem verschiedene Bildungseinrichtungen und das Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) teilgenommen haben. KI.ASSIST sollte wichtige Hinweise liefern, wie sich ein breites Bündel KI-gesteuerter Assistenzdienste einsetzen lässt, um Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen beruflich zu rehabilitieren.

In zehn Lernräumen haben unterschiedliche Technologien zur Verfügung gestanden. Zum Beispiel wurden Menschen mit Angstsymptomen mithilfe von Sensoren und intelligenter Emotionserkennung trainiert, um mit ihrer Krankheit leben zu lernen. Blinde Menschen haben mit einem Audio-Chatbot gearbeitet, der ihnen beim Orientieren geholfen hat. Ein weiteres getestetes System erlaubt Menschen mit Kommunikationsproblemen, Bewerbungsgespräche mit einem Avatar zu führen.

Für jede der angewandten Technologien wurden die Vor- und Nachteile herausgearbeitet. Das Projekt lief von 2019 bis 2022. Inzwischen könnten die verwendeten Technologien bestimmt  noch besser sein, sagt Cornelius Zeitlmann, Leiter der IT-Ausbildung beim Berufsförderungswerk München. „Die Entwicklung der KI schreitet sehr schnell voran. Assistenzsysteme, die heute auf dem neuesten Stand sind, können nach wenigen Jahren schon veraltet sein.“

Wie schnell sich die Technik entwickelt, beobachtet auch Stefan Baumgärtner. Der Experte arbeitet bei der IT-Firma TeamViewer, die vor allem durch Programme für den Fernzugriff auf Computer bekannt ist. Das Göppinger Unternehmen hat die Software für die im KI.ASSIST-Projekt verwendete Datenbrille geschrieben. „Mittlerweile lassen sich Objekte bereits dreidimensional darstellen“, sagt Stefan Baumgärtner. Das heißt, es ließe sich eine Fertigungssituation simulieren, in der sich vor dem Auge des Betrachters ein Hologramm aufspannt, das ihm genau zeigt, in welchen Winkel eines Gegenstandes eine Schraube eingedreht werden muss. In Fabriken würden dann keine schriftlichen Anweisungen auf Papier oder am Bildschirm mehr gebraucht. Die Anlernphasen wären kürzer und das Arbeitsergebnis besser.

Mit der Datenbrille kann man sein Lerntempo 
selbst bestimmen.

DATEN & FAKTEN - Künstliche Intelligenz

KI-Nutzung in deutschen Unternehmen

Quelle: IMD (2023)

24. Platz

Im Länderranking zur digitalen Wettbewerbsfähigkeit im Jahr 2023 erreicht Deutschland den 24. Platz. Damit liegt Deutschland zwar hinter digitalen Vorreitern wie den Niederlanden und den skandinavischen Ländern, doch vor Frankreich, Spanien und Japan.

Quelle: Ifo Institut (2023)
 

Was glauben Sie, wann wird Künstliche Intelligenz die Gesellschaft spürbar verändern, unabhängig davon, ob negativ oder positiv?

Quelle: Bitkom (2024)
  • Weiß: keine Veränderungen
  • Blau: keine Angaben
  • Hellgrau: Veränderungen frühestens in zehn Jahren
  • Gelb: Veränderungen in den kommenden zehn Jahren
  • Dunkelgrau: Veränderungen in den kommenden fünf Jahren
  • Schwarz: Veränderungen sind bereits feststellbar  

Die KI wird vor allem wissensbasierte Arbeitsplätze verändern. Der Niedriglohnsektor ist kaum betroffen.

„Workerbot 9“ bringt Patienten Getränke und 
Essen ans Bett.

KI bedeutet nicht weniger Arbeit

Obwohl Automatisierung nach Ansicht von Fachleuten bisher noch nie zu weniger Arbeit geführt, sondern mehr Dynamik entfacht hat, fürchten viele Menschen, von der KI ersetzt zu werden. Norbert Huchler, Arbeitssoziologe am Forschungsinstitut ISF in München, schätzt, dass Künstliche Intelligenz vor allem wissensbasierte Arbeitsplätze verändern wird – die Arbeit werde jedoch nicht weniger. „Und auch der Niedriglohnsektor erweist sich als robust, weil er anpassungsfähig ist.“ Während der Coronazeit zum Beispiel hätten sich viele Arbeitskräfte aus der Gastronomie zurückgezogen, seien aber in anderen Branchen wieder untergekommen. 

Echten Nutzen kann die KI laut Huchler dort bringen, wo es Arbeitnehmenden schwerfällt, ihren Job zu bewältigen. So zeigen Untersuchungen, dass psychischer Druck im Job eine der häufigsten Krankheitsursachen ist. „Ein Ziel sollte es deshalb sein, dass KI die Menschen dort unterstützt, wo sie ständig von ihren Kernaufgaben abgelenkt werden.“

Besonders oft werde die Überfrachtung mit Randtätigkeiten als anstrengend empfunden – etwa Administrations- oder Dokumentationsaufgaben. „Wissensassistenzsysteme könnten die Betroffenen von solchen Routineaufgaben entlasten“, sagt Huchler. KI-Firmen arbeiten bereits an „Informations-­Butlern“, die wissen, welche Informationen gebraucht werden, sie prompt liefern und damit überflüssigen Stress vermeiden. 

Zeitdruck gehört in vielen Berufen zum Alltag. Kliniken sind ein Beispiel. „Eine Pflegekraft läuft während einer Achtstundenschicht im Schnitt rund zwölf Kilometer“, sagt Matthias Krinke, Gründer des Berliner Roboterbauers pi4. Maschinen könnten einen Teil dieser Wege übernehmen. Seine Firma hat dafür den Prototypen „Workerbot 9“ entwickelt. Der rollende Roboter kann in Krankenhäusern und Pflegeheimen das Personal entlasten, indem er zum Beispiel Getränke serviert, Essen ans Bett bringt, an Termine erinnert oder auf Wunsch einen Witz erzählt. Das gelernte Personal kann derweil Blut abnehmen, Verbände wechseln oder Medikamente austeilen. Ein großer Klinikbetreiber hätte bereits Interesse an „Workerbot 9“ signalisiert, sagt Krinke. 

„Mittlerweile lassen sich Objekte bereits dreidimensional darstellen.“

Stefan Baumgärtner, Software-Entwickler der Datenbrille bei KI.ASSIST

Mehr Zeit für individuelle Beratung durch Unterstützung bei Routineaufgaben

Welchen Nutzen sie aus der KI ziehen können, schauen sich alle großen Organisationen derzeit an. Das gilt auch für die Deutsche Rentenversicherung (siehe Interviewkasten). Sie ist bereits mitten in der Transformation. Bei den Versicherten geht es darum, ihnen durch die Digitalisierung alles an Service zu bieten, was ihnen die eigene Zukunftsplanung und die Kommunikation mit der Rentenversicherung erleichtert (siehe Artikel: Papier war Vorgestern).

Den Mitarbeitenden soll mithilfe Künstlicher Intelligenz viel an Standard- und Routineaufgaben abgenommen werden. Auf diese Weise kann dem Fachkräftemangel, der durch den  demografischen Wandel noch verschärft wird, entgegengewirkt werden. Es bleibt gleichzeitig mehr Zeit für individuelle Beratung. „Und wir haben beispielsweise umfangreiche Datenbanken mit komplexen Rechtstexten. Derzeit testen wir, wie man sie mit KI verständlicher machen kann“, sagt Digitalchef Matthias Flügge. Sein Team hat sich für die digitale Zukunft ein entsprechendes Motto gegeben: „Wir lieben Veränderung.“

Roboterbauer Matthias Krinke hat „Workerbot 9“ erschaffen.

INFO - Digital, künstlich, intelligent

Unter Digitalisierung versteht man die Umwandlung von analogen in digitale Daten, also zum Beispiel von einem Brief zu einer E-Mail oder von einer Fahrkarte auf Papier zu einem Handy-Ticket.

Künstliche Intelligenz (KI) versucht, menschliche Intelligenz und Entscheidungsfindung nachzubilden. Die Digitalisierung liefert die Datenmengen, die für das Training nötig sind. Die KI wiederum verstärkt die Digitalisierung.

Interview mit Matthias Flügge – Digitalchef der Deutschen Rentenversicherung Bund

„Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen“

Ist Künstliche Intelligenz auch bei der Deutschen Rentenversicherung ein Thema?
Ein sehr wichtiges sogar. Viele haben bei der KI ein Bild von Robotern mit rot leuchtenden Augen im Kopf, die die Weltherrschaft übernehmen. Uns geht es aber darum, dass unsere Mitarbeitenden Informationen schneller finden und ihre Entscheidungsprozesse unterstützt werden. Wir haben bereits erste Projekte gestartet, etwa im Bereich der Betriebs- und Arbeitgeberprüfung. Unsere Mitarbeitenden sollen von der KI Hinweise erhalten, wo in den hunderten Seiten an Unterlagen sich ein Blick auf die Plausibilität lohnen könnte.

Werden in Zukunft also Arbeitsplätze bei der Deutschen Rentenversicherung abgebaut?
Nein, davon gehe ich nicht aus. Der demografische Wandel in den kommenden Jahren wird Wirtschaft und Verwaltung treffen. Es geht deshalb darum, den Arbeitskräftemangel mithilfe von Künstlicher Intelligenz abzumildern – mit mehr Effizienz. Wir haben bereits ein gut Bild, wo uns KI in dieser Hinsicht unterstützen kann.

Welchen Nutzen bringt die fortschreitende Digitalisierung für die Versicherten?
Im Kundenservice könnten intelligente Systeme zum Beispiel dann nützlich sein, wenn es darum geht, Gespräche zusammen zu fassen, Antworten auf fachliche Fragen vorzubereiten oder komplizierte Texte in einfacher Sprache wiederzugeben. Auf diese Weise könnte die KI den Alltag nicht nur einfacher, sondern auch kundenfreundlicher machen – und damit menschlicher.

Menschlicher?
Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen, gerade beim Thema KI und Automatisierung. Mitarbeitende, die fundierte Entscheidungen treffen können und Zeit für persönliche Beratung haben, sowie personalisierte Informationsangebote machen Unternehmen nahbarer und ja – menschlicher. Automatisierung durch Künstliche Intelligenz ist ein Mittel und kein Selbstzweck.