Digitale Junkies

World of Warcraft – kurz WoW – ist eines der bekanntesten Onlinespiele mit einer riesigen Fangemeinde. Die Gamer können sich einen individuellen Helden-Charakter erstellen und sich allein oder in Gruppen in der Fantasywelt Azeroth beweisen. Es ist eine schöne Idee: Menschen aller Altersklassen und Nationalitäten spielen einträchtig zusammen und kämpfen gemeinsam gegen das Böse. Für einige hat diese virtuelle Welt jedoch fatale Auswirkungen auf ihr echtes Leben.

Wenn man nur noch schwer aufhören kann, wird das Spielen zur Sucht. Wie viele Menschen genau betroffen sind, ist unklar. Aber nach einer Erhebung von Forsa von 2023 zeigen 11,8 Prozent der unter 18-Jährigen riskantes Computerspielverhalten. Seit 2018 erkennt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) exzessives Computer- oder Videospielen als Krankheit an.

„Es kommt auch heute noch vor, dass Lukas* die ganze Nacht durchzockt“, sagt Katrin Landsmann* über ihren Sohn. Wenn aus seinem Zimmer, das gleich neben ihrem Büro liegt, unvermitteltes Aufschreien oder „seltsame Rülpslaute“ zu ihr dringen, weiß sie, dass der 16-Jährige als Held wieder versucht, die Welt von Azeroth zu retten. Die schlimmste Zeit seiner Spielsucht liegt aber hinter der Familie. Lukas hat sein erstes Smartphone mit dem Übergang zum Gymnasium schon als Zehnjähriger bekommen. „Der Druck war damals groß, andere Kinder hatten ein Smartphone und kommunizierten bereits über WhatsApp“, erinnert sich Landsmann. Mit der App „Pokémon Go“ ging es los. Anfangs hatten die Eltern keine Bedenken: Der Junge war viel an der frischen Luft, das Spiel kombiniert das virtuelle mit dem realen Leben. Es geht nicht um Gewalt und man kann es in Gruppen spielen. Doch es dauerte nicht lange, da hatten einige Schulfreunde bereits die kostenpflichtige Version.

Nach langem Drängen hat der Vater, der von Zeit zu Zeit mitspielte, aus dem Internet für Lukas ein Upgrade heruntergeladen. Dazu braucht man eine Kreditkarte und eine E-Mail. Wenig später beantwortete Katrin Landsmann, erfreut über sein Interesse, die Fragen ihres Sohnes über Kreditkarten und Geldverkehr.

„Vor der Therapie muss den Betroffenen wirklich klar sein, wie sehr sie sich schaden.“

Prof. Bert te Wildt, Chef der Psychosomatischen Akutklinik Kloster Dießen am Ammersee

Dann gingen innerhalb kürzester Zeit mehrere kleinere, aber auch Buchungen bis zu 50 Euro von ihrem Konto ab. Insgesamt fast 300 Euro. Mit dem Geld hat Lukas „Pokébälle“ oder „Glückseier“ gekauft, die ihm im Spiel einen erheblichen Vorteil verschaffen. Solche „In-Game-Käufe“ sind enorm verführerisch und können außer mit Kreditkarten auch mit Konto- oder Handynummern getätigt werden.

„Er war wie im Rausch“, erzählt sie. Später hat der Junge auch Bargeld gestohlen. Erst nach Wochen schöpft die Mutter Verdacht. Etwa zeitgleich wurde Lukas in einem Spielwarenladen erwischt, nachdem er wiederholt von einer Kamera dabei gefilmt worden war, wie er ganze Packungen von Spielkarten aufriss, um nur die seltenen herauszunehmen, denn seine Besessenheit hatte sich inzwischen auch auf die analoge Welt ausgedehnt.

„Jetzt gingen bei mir die Alarmlampen an. Mein Junge ist abhängig“, erinnert sich Landsmann. Die Eltern suchten Hilfe in der Ambulanz für Kinder, die spielsuchtgefährdet sind, fingen an, sich mit dem Spiel auseinanderzusetzen, um mit ihm darüber reden zu können. „Ihn nur dazu aufzufordern, das Handy auszuschalten, reichte einfach nicht“, musste die Mutter einsehen. Nach Beratung mit einer Ärztin aus der Ambulanz der Charité begann die Familie damit, einen Wochenplan zu erstellen, wie oft und wie lange gespielt werden darf. „Wir haben das dann alle unterschrieben.“

Mit dem Spiel „Pokémon Go“ (oben) fing bei dem heute 16-jährigen Lukas die Sucht an. Manchmal war er wie im Rausch. Er und seine Familie erhielten in der Berliner Charité Rat und Hilfe.

Ab sofort durfte es keine Ausnahmen mehr geben. Zu dem Programm gehörte, dass Lukas auch mal fünf Stunden hintereinander spielen durfte. Lieber lange und selten als kurz und oft, so der Rat in der Charité. Es sei furchtbar frustrierend, habe die Ärztin erklärt, wenn man mitten im Spiel abbrechen müsse. Mit den neuen Regeln wurde es besser. „Früher hatte ich Angst, dass ich nicht mehr an ihn rankomme“, sagt Katrin Landsmann. Heute stiehlt Lukas nicht mehr und manchmal kommt er zu seiner Mutter und bittet sie, ihm das Handy wegzunehmen.

Die reine Zeit, die man mit dem Spielen verbringt, sei nicht allein ausschlaggebend, so Bert te Wildt, Chef der Psychosomatischen Akutklinik im Kloster Dießen am Ammersee. In der Akutklinik ist die Internetabhängigkeit in all ihren Varianten ein Schwerpunkt. Bei fünf Stunden am Tag vor dem PC sei „gerade noch ein Schulalltag denkbar“, erklärt er. Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen  verbringen bis zu 16 Stunden vor dem Bildschirm. „Natürlich ist die Zeit oder die Dosis auch immer ein Indikator, das Quantitative. Wir schauen aber eher auf qualitative Symptome“, erklärt er. Kontrollverlust und die Unfähigkeit aufzuhören, gehörten ebenso dazu wie Leistungsabfall in der Schule, im Studium oder Beruf. Oft zerbrechen Freundschaften und Beziehungen. Viele leiden an Haltungsschäden oder Schlafstörungen. Die „Digital Junkies“ – so der Titel seines Buchs – „vergessen zuweilen sogar zu essen und zu trinken“.

68,4 %

der Minderjährigen,
deren Nutzung von Computerspielen problematisch anzusehen ist, sind männlich.

Quelle: Forsa, 2023
 

Menschen mit niedrigem Selbstwertgefühl oder mit niedriger Toleranzschwelle, mit Sozialphobien oder Depressionen seien besonders anfällig. Allerdings kann auch umgekehrt die Internetsucht zu Depressionen führen. Bei den Massively Multiplayer Online Role-Playing Games (MMORPGs), die besonders süchtig machen, schlüpfen die Spieler in die virtuelle Rolle, die sie sich selbst schaffen und in der sie im Team Heldentaten vollbringen. Die Gruppe im Spiel ersetzt dabei oft echte Freundschaften.

„Bei Sucht – auch bei Alkohol- oder Drogensucht – gibt es immer Peergroups, die zusammen eine gute Zeit verbringen und das Gefühl vermitteln, man könne sich aufeinander verlassen“, erklärt te Wildt. Der Weg raus aus der Sucht ist radikal, denn es geht anfangs nur mit kompletter Abstinenz. In den ersten drei Wochen sind sämtliche digitalen Geräte verboten. Um das möglich zu machen, muss die Einsicht da sein, dass eine Therapie nötig ist. „Die Leute müssen sich wirklich bewusst sein, wie stark sie sich selbst schädigen.“ 

Te Wildt spricht von einer „krassen Entscheidung“ bei der Computerspiel- und Onlinesucht. Die schwierigste Hürde sei dabei, Hilfe zu suchen und anzunehmen, dabei komme auch Angehörigen eine Rolle zu. Dann ginge es darum, „alternative Spielräume“ zu entdecken, die das Vakuum durch den Wegfall der virtuellen Welt ersetzen. Die Betroffenen müssen lernen, das Leben außerhalb der digitalen Welt wieder als lebenswert wahrzunehmen. „Wo kann ich Erfolge erleben, wo an Freundschaften anknüpfen, Beziehungen aufnehmen?“, so te Wildt. Es sind aber durchaus nicht nur Kinder und Jugendliche, die süchtig werden.

Der Weg aus der Sucht ist radikal und geht anfangs nur mit kompletter Abstinenz.

INFO

Wer als Erwachsener mit einer Abhängigkeitserkrankung kämpft, dem kann eine Reha helfen. Die Deutsche Rentenversicherung ermöglicht für ihre Versicherten eine medizinische Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen. Je nach Schwere der Erkrankung kann diese ambulant, ganztägig ambulant oder stationär stattfinden.
Wie bei anderen Rehabilitationen auch, kann der Antrag online gestellt werden.

Virtuelle Welten, bei denen die Gamer in Rollen 
schlüpfen, machen besonders häufig süchtig. Einige Spieler vergessen sogar, zu essen.

Erwachsene können genauso abhängig von digitalen Medien sein – seien es Computerspiele, soziale Medien, Onlineshopping oder Streamingdienste. „Ich bin schon ganz früh mit meinem Papa vor der Glotze abgesackt“, erzählt die 25-jährige Emily Werneke*. Es habe damals Momente gegeben, „da bin ich ausgerastet, wenn mir jemand die Fernbedienung weggenommen hat“. Später seien noch andere Süchte dazugekommen. Seit zweieinhalb Jahren hat sie die Abhängigkeit überwunden. Nur ihre Mediensucht hat sie noch nicht komplett im Griff. Um von ihrer Sucht loszukommen, ist die Sozialpädagogin Ende 2023 für neun Wochen zur stationären Therapie in eine Klinik gegangen. Komplett weg vom Bildschirm, das sei für sie noch immer schwierig. Bei Filmen und TV-Serien „ist es wie eine neue Pforte. Da gehst du durch und kriegst nichts mehr mit von deiner Umwelt.“

Werneke geht regelmäßig zu Therapiegruppen für Leute mit Suchtverhalten aller Art. Hilfe fand sie auch im Internet. „Aktiv gegen Mediensucht“ ist eine Selbsthilfeplattform bei Mediensucht sowie für Smombies (Smartphone-Zombies) und Serienjunkies. Über ein von der Deutschen Rentenversicherung Bayern Süd gefördertes Projekt kam Werneke wiederum auf ein Berliner Start-up-Unternehmen, das digitale Unterstützung auf dem Weg zur Verhaltensänderung anbietet. Dazu gehört eine App, die Nutzerdaten sammelt, wie die Herzratenvariabilität, um den aktuellen Stresslevel zu messen und mit entsprechenden Strategien auf Rückfallgefahr einzugehen – ein digitales Hilfsmittel, um die digitale Sucht zu besiegen.

DATEN & FAKTEN

Digitale Verführung

Der Anteil der Computer- und Videospieler in verschiedenen Altersgruppen in Deutschland im Jahr 2023:

Quelle: Bitcom, 2023 Quelle: forsa, 2023

Gamingzeit an Schultagen 
unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland nach Geschlecht im Jahr 2023:

Quelle: Bitcom, 2023 Quelle: forsa, 2023
  • Dunkelgrau: unter einer Stunde
  • Weiß: 1 bis unter 2 Stunden
  • Gelb: 2 bis unter 3 Stunden
  • Schwarz: 3 bis unter 4 Stunden
Quelle: GfK Meinungsforschung

Jahre ist inzwischen (2023) das Durchschnittsalter von Gamern. 2013 lag es noch bei 32 Jahren.

INFO - Wo bekommt man Hilfe bei digitaler Sucht?

t1p.de/Selbsthilfe-Mediensucht 
t1p.de/Beratung-Caritas
t1p.de/Mediensuchthilfe
t1p.de/Erste-Hilfe-Internetsucht
t1p.de/Test-Mediensucht

Alle Informationen sowie eine Broschüre zum Herunterladen sind online abrufbar:
t1p.de/Sucht-und-Reha