Selbstbestimmt leben
Auch mit einer psychischen Beeinträchtigung kann man zurück ins Arbeitsleben finden. Wie das Berufliche Trainingszentrum in Leipzig eine junge Mutter mit Depressionen und Panikattacken auf ihrem Weg unterstützt.

Der Artikel erzählt eindrucksvoll, wie Menschen mit psychischen Erkrankungen durch gezielte Unterstützung neue Perspektiven gewinnen können – beruflich und persönlich. Am Beispiel von Silvana K. zeigt er, wie wirkungsvoll Angebote wie das Berufliche Trainingszentrum (BTZ) der Deutschen Rentenversicherung sein können – und dass ein Neuanfang auch nach schweren gesundheitlichen Krisen möglich ist. Ein Mutmacher für alle, die mit ähnlichen Herausforderungen kämpfen, und ein Plädoyer dafür, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Der Stern ist fertig und leuchtet. Auch Silvana K.s Augen leuchten. Sie hat für ihr Projekt eine technische Zeichnung erstellt, Kupferdraht zugeschnitten, sauber gelötet und den Holzständer gebaut. Silvana ist gut aufgelegt. Für sie ist heute aus einem zweiten Grund ein guter Tag: Sie hat eine Zusage bekommen. In wenigen Wochen wird sie in einen neuen Job starten.
Das war für Silvana lange fast unvorstellbar. Depressionen bestimmten ihr Leben. Es gab Tage, da kam sie nicht aus dem Bett. In den schlimmsten Momenten hatte sie keine Kraft, sich um ihren damals kleinen Sohn zu kümmern. „Das ist Außenstehenden sehr schwer verständlich zu machen. Ich liebe ihn, ich wollte etwas mit ihm machen, aber ich konnte einfach nicht. Darunter habe ich am meisten gelitten.“ Ihre größte Stütze in dieser Zeit: ihre Eltern.
Silvana hat – neben körperlichen Erkrankungen – seit Jahren immer wieder Depressionen und bereits darüber nachgedacht, Erwerbsminderungsrente zu beantragen. „Ich wollte das eigentlich nicht, aber ich habe keine andere Lösung gesehen“, so die Mittvierzigerin. Bis ein Reha-Berater sie auf das Berufliche Trainingszentrum (BTZ) aufmerksam machte.

"Arbeit bedeutet soziale Integration und ist sinnstiftend.“
Marko Daubitz,
Leiter des Beruflichen Trainingszentrums in Leipzig
Ein „Berufliches Training“ soll Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen den Weg ins Arbeitsleben ermöglichen. Dazu gehören das Auffrischen bekannter und das Erlernen neuer beruflicher Fähigkeiten, Projektarbeit in der Werkstatt sowie Unternehmenspraktika. Das Besondere aber ist: Die Teilnehmer werden psychologisch eng betreut. Das Leipziger BTZ, das Silvana schließlich besucht, ist das größte in Deutschland und kümmert sich um depressive Teilnehmer ebenso wie um Menschen mit Ess- oder Traumafolgestörungen oder anderen psychischen Erkrankungen. Die Plätze sind gefragt, denn die Nachfrage übersteigt bei Weitem das Angebot. „Das liegt sicherlich daran, dass die Herausforderungen in unserer Gesellschaft gewachsen sind“, erklärt Marko Daubitz, der Leiter des BTZ am Berufsförderungswerk in Leipzig.
Silvanas Leiden begann 2008 mit einem Hörsturz. Sie erholt sich nur schwer, bleibt auf einem Ohr gehörlos, kann nicht arbeiten. Dabei haben sie und ihr damaliger Partner gerade ein Haus gekauft. Das Schlimmste: Sie verliert ihre Arbeit in einer Bäckerei. Silvana fällt in ein tiefes Loch. Ihr Hausarzt verschreibt Antidepressiva. Es scheint aufwärts zu gehen. Vieles muss Silvana neu lernen: sprechen, auch laufen, denn der Gleichgewichtssinn ist beeinträchtigt. Sie findet eine Stelle in einem Zahntechnischen Labor. Als Seiteneinsteigerin beginnt sie mit
einfachen Arbeiten, lernt aus eigenem Antrieb hinzu und übernimmt zunehmend anspruchsvollere Tätigkeiten, erstellt Kostenvoranschläge ebenso wie Aufbissschienen.
Silvana hat ein hohes Durchhaltevermögen. Auch als sie im Krankenhaus liegt und es in ihrer Partnerschaft sehr schwierig wird. Sie schluckt die Verletzungen, macht weiter, funktioniert. Nur ihre Panikattacken, die gehen nicht weg. Sie hat Angst, in der Öffentlichkeit umzukippen, schiebt das auf die Folgen des Hörsturzes. Als ein Amtsarzt sie untersucht, wird klar: Das ist immer noch die Depression. Drei Monate Klinikaufenthalt folgen.
Danach geht es ihr viele Jahre ziemlich gut. Sie trennt sich, arbeitet, ist für ihr Kind da. Sie gibt wieder alles. Kurz vor Weihnachten flattert ihre Kündigung ins Haus. Jetzt streikt ihr Körper völlig. Ein Hirntumor muss entfernt werden. Krank zu Hause zu sein, die soziale Isolation und der fehlende Tagesrhythmus triggern bei Silvana die Depression. Ihre Welt wird wieder grau. Manchmal fehlt ihr die Kraft zum Zähneputzen. Dazu die finanziellen Probleme. Sie ist sich sicher: „Ohne meine Eltern wäre ich auf der Straße gelandet.“
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Versicherte haben im Jahr 2023 von der Deutschen Rentenversicherung Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) erhalten, beispielsweise Leistungen zur Aktivierung und beruflichen Wiedereingliederung
Quelle: Reha-Atlas, 2024
Sich akzeptieren lernen
Psychologen sind sich einig: Arbeit ist für das psychische Wohlbefinden von großer Bedeutung. „Arbeit bedeutet soziale Integration, Wertschätzung und ist sinnstiftend. Nicht zuletzt erlaubt sie durch ein finanzielles Einkommen auch soziale und kulturelle Teilhabe“, erklärt Daubitz.
Für Silvana trifft all das zu. Sie will unbedingt wieder berufstätig sein. Aber ihre Grenzen zu erkennen und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, das bleibt ihre Herausforderung. Das zeigt sich auch während des Trainings. „Seit der Kopf-OP fällt es mir schwerer, Neues aufzunehmen.“ Im Zahnlabor damals hatte sie alles schnell begriffen, nun fragt sie sich, wieso die anderen Teilnehmer die Excel-Tabelle schon fertiggestellt haben, während sie noch tüftelt. Sie reagiert mit gewohnten Mustern und arbeitet noch mehr. Abends, wenn die anderen Teilnehmer entspannen, greift sie zum Laptop.
Das fällt auch den Mitarbeitern im BTZ auf. „Sie setzen sich zu sehr unter Druck“, konstatieren Trainer und Psychologen und reden ihr gut zu: Nach einem Acht-Stunden-Tag darf man zufrieden sein, auch wenn nicht alles fertig ist. Was ist schon eine Excel-Tabelle gegen die Gesundheit? Mittlerweile hat Silvana gelernt: Es ist okay, Zeit für sich zu benötigen
"Nicht kochen und keine Besorgungen machen zu müssen, hat mich sehr entlastet.“
Silvana K.,
Rehabilitandin im BTZ Leipzig, über das dortige Internat
Das Internat erleichtert den Alltag
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Trainern, Sozialpädagogen und Psychologen und der stete Austausch mit den Teilnehmern gehören zum Konzept des BTZ. Psychologen sind immer für Gespräche greifbar.
Was Silvana auch hilft, ist ein fester Rhythmus. Im BTZ sieht er so aus: morgens 90 Minuten Computerarbeit mit Bewerbungen, dann Werkstattpraxis, Mittagessen, Kursangebote, etwa zur Entspannung und Kommunikation, außerdem Sportangebote. Auch für die Möglichkeit, im Internat des BTZ zu wohnen, ist sie dankbar. Kinder können mitgebracht werden, doch Silvanas Sohn ist inzwischen erwachsen. Das Internat erspart ihr einen langen Anfahrtsweg. Die Teilnehmer haben ihr eigenes Zimmer, bekommen drei Mahlzeiten, alles hausintern zubereitet und „lecker“, findet Silvana. „Nicht kochen und keine Besorgungen machen zu müssen, hat mich sehr entlastet.“
Stattdessen Zeit, um sich mit sich, seinen Stärken, Schwächen und Wünschen auseinanderzusetzen. „Welche Rahmenbedingungen brauche und erwarte ich von einer Arbeitsstelle? Was sind meine arbeitsbezogenen Werte? Das sind wichtige Fragen, für die im Alltag oft keine Zeit bleibt und für die die Maßnahmen Raum bieten“, erklärt Daubitz.
Silvana lernt, sich selbst zu akzeptieren. „Wie ich jetzt bin, bin ich auch okay“, sagt sie. Im Praktikum war man hochzufrieden mit ihr und bot ihr dann auch einen Job an. Als sie zur jährlichen Firmenfeier eingeladen wird, stellt der Chef sie bereits als neue Mitarbeiterin vor. Silvana freut sich auf die Stelle und die netten Kollegen. Sie wird im Labor eines Zulieferers für Zahntechnik die Materialien analysieren und prüfen.
Silvana ist nicht am Ende ihrer Genesung. Aber sie erlebt wieder kleine Glücksmomente und sieht mit Hoffnung in die Zukunft.
Weitere Infos zum BTZ:
btz-am-bfw-leipzig.de
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