Tom Hillenbrand trifft sich mit seinen Freunden gerne auf einer Gamer-Plattform.
Tom Hillenbrand trifft sich mit seinen Freunden gerne auf einer Gamer-Plattform.



„Menschsein wird etwas Wertvolles werden“

Das Interview mit Tom Hillenbrand findet auf der Gamer-Plattform Discord statt. Wir sprechen in einem der virtuellen Räume, in denen er sonst Freunde trifft. Unter seinem Nutzernamen steht, er „könnte Spuren von Nerdismus und Gothic enthalten“. Hinter ihm im Regal ist eine schwarze Maxi-Single mit grüner Sonne zu sehen: „Temple of Love“ von Sisters of Mercy, einer englischen Rockband aus den 1980er-Jahren. 
 

Tom, du warst früher Autojournalist beim „Spiegel“. Wie wird man da plötzlich zum Science-Fiction-Thriller-Schriftsteller?
Tom Hillenbrand:
Kündigen und anfangen [lacht]. Ich habe lange über Technologien geschrieben und mich dabei vor allem dafür interessiert, welche Folgen sie für uns haben. Hinzu kam, dass ich neben meiner Arbeit bereits den kulinarischen Krimi „Teufelsfrucht“ geschrieben hatte. Ich wusste also: Romane schreiben macht unheimlich viel Spaß, auch wenn die Gefahr zu scheitern hoch ist.

Also bist du voll ins Risiko gegangen?
Ach, es kann einem in Deutschland ja nichts passieren. Wenn man eine vernünftige Ausbildung hat, muss man sich im schlechtesten Fall später einem anderen Medienkonzern an die Brust werfen oder was ganz anderes machen. Man verhungert also nicht, man scheitert höchstens. Die Chance zu scheitern ist allerdings hoch, wenn man Schriftsteller werden will – ich würde schätzen bei 97 Prozent.

Du hast deine Krimis dann bald mit Science-Fiction vermischt, woher kommt deine Faszination für Dystopien, düstere Visionen der nahen Zukunft?
Auch schon vor dem Phänomen der „Künstlichen Intelligenz“ habe ich beobachtet, wie Algorithmen lernen, uns Menschen zu lesen. Dann kommt man fast zwangsläufig zu Dystopien. Geschichten, in denen etwas schief geht, sind eben immer besser als Geschichten, in denen alles gut geht.

Deine Romane stecken voller Wissen und Wissenschaft. Recherchierst du deine Themen so gründlich wie früher als Journalist?
Verrückterweise verlangt Science Fiction gar nicht so viel technische Recherche. Meine historischen Romane wie Der Kaffeedieb haben da eine viel höhere Informationsdichte und Rechercheleistung. Denn was in der Vergangenheit war, kann man ja irgendwo nachlesen. Für Science Fiction muss ich natürlich trotzdem wissen, was es gibt und was möglich sein könnte. Der größere Aufwand ist aber eher, ein Szenario zu bauen, was in sich logisch und geschlossen ist. In Hologrammatica gehe ich zum Beispiel davon aus, dass unsere gesamte Umgebung von Hologrammen überlagert ist. Jeder sieht die, man braucht dazu keine 3D-Brille. Ich erkläre aber nirgendwo, wie das überhaupt funktioniert. Natürlich gibt es dazu technische Überlegungen, aber wen juckt‘s? Das Interessante ist nicht, wie das funktioniert, sondern was das mit uns macht.

Dein neues Buch „Lieferdienst“ ist wieder eine dystopische Geschichte.
Richtig. In „Lieferdienst“ trifft Mad Max auf Amazon. Ich entwerfe ein satirisches Szenario, in dem wir nicht mehr bei einem Anbieter bestellen, sondern jede Onlinebestellung ausgeschrieben wird. Also: Ich möchte gerne eine Zahnbürste – wer bringt sie mir am schnellsten und günstigsten? Das löst sofort einen brutalen Wettkampf aus, den die Kuriere oft mit schmutzigen Tricks ausfechten.

Die Vorstellung, dass die KI Millionen Arbeitsplätze ersetzen wird, greifst du also nicht auf?
Ich bin nicht so ganz überzeugt von dieser Sorge. Sicher, für viele wird sich die Arbeitsweise ändern. Mensch zu sein, wird etwas Wertvolles werden. Womöglich leben wir schon in zwei Jahren in einer Welt, die nur noch aus Geistern besteht. Alle, die im Internet etwas sagen, sind nicht real. Die Videos, die sie teilen, sind Gespenstervideos. Nichts ist mehr echt! Wenn also jemand nachweislich ein echter Mensch ist und Dinge zum „Meat Space“ – der realen Welt – in Bezug setzen kann, dann ist das eine wertvolle Fertigkeit. Deshalb kann KI ja auch keine wahre Kunst schaffen, weil sie eben kein Mensch ist und keine Emotionen hat. Sie kennt Schmerz, keine Leidenschaft.

Die Fähigkeiten von künstlicher Intelligenz werden also überbewertet?
Es ist seltsam, dass wir die KI nicht die Sachen machen lassen, die wir Menschen nicht gut können. Ich kenne keinen Informationsarbeiter, der sagt, er hätte zu wenig Information. Was man bräuchte, wäre ein Assistent, der einem etwas abnimmt, der vorfiltert. Wir brauchen aber eine Maschine, die Content frisst, und keine, die Content ausspuckt.

Wir nutzen KI also komplett falsch?
Vielfach ja. Wir lassen Generative KI Dinge tun, die Menschen gut können, wie Malen, Musik machen, Gedichte schreiben. Warum bloß? Es ist ja nicht so, dass man sagen würde, Gedichte oder Zeichnungen sind viel zu teuer. Das macht keinen Sinn, weder ökonomisch, noch gesellschaftlich, noch künstlerisch. Nach der ersten Euphorie über KI-generierte Bilder merkt man jetzt: Eigentlich sieht der ganze Kram doch gleich aus, ist irgendwie unoriginell und seelenlos. Kunst stellt immer einen Bezug zu etwas her, und das ist nur interessant, wenn das zwischen Menschen geschieht. Selbst wenn es jetzt gelänge, einen Roboter auf die Bühne zu stellen, der perfekter Tchaikovsky spielt als Anne-Sophie Mutter: Das würde sich niemand angucken wollen! Was uns fasziniert, ist doch gerade die Imperfektion des Menschen.

Es wird aber auch immer intelligentere Chatbots geben, die mit uns Gespräche führen.
Sicher, aber Unternehmen müssen sich klarmachen, dass so eine Form der Kommunikation auch eine Botschaft transportiert. Wenn ich meine Kunden nur mit einer KI sprechen lasse, oder wenn ich meine Werbeanzeige mit der KI Midjourney generiere, dann sende ich die Botschaft, dass ich faul und zweitens bin.

KI wird aber auch in unsere Kommunikation mit echten Menschen eindringen. Jemand von Google hat mir erzählt, was sie dort gerade testen: Eine Art Echtzeit-Zoom in verschiedenen Sprachen, gedolmetscht. Das Gespräch enthält dann also synthetische Anteile, nämlich Lippenbewegungen in der übersetzten Sprache, die die KI hineinrechnet. Und in zwei Jahren werden alle eine App haben, die ihnen bei jeder Chat-Mitteilung argumentative Vorschläge machen wird. Wenn man sich dann mit seiner Freundin streitet, wird einem der Co-Pilot vorschlagen, wie man sie argumentativ aushebeln kann; Wenn man seinem Kind schreibt, sagt er einem, wie eine kindgerechte Ansprache geht. Das wird alles ganz schön crazy!

Warum warnst du immer wieder, KI in Unternehmen nicht zu viel Macht zu geben, zum Beispiel bei der Personalauswahl?
Wenn man aufgrund der Daten der Vergangenheit nach Personal sucht, stellt man erstens nur weiße Männer ein. Und zweitens verpasst man dann was. Das ist in der Arbeitswelt übrigens auch andersherum so. Wenn ich meinen Job wechseln möchte und meinen KI-Assistenten frage, wofür ich denn geeignet bin, wird er mir wohl kaum Schriftsteller vorschlagen. Denn dem System fehlt die Fantasie, dass das gelingen könnte. Die große Chance wäre ja, Verwaltungsvorgänge zu vereinfachen. Zum Beispiel die Bearbeitung eines Rentenantrags, sowas sollte uns KI abnehmen können. Vielleicht auch doch ein paar Sachen aus der Personalabteilung. Aber dazu müssten wir ganz genau wissen, was die KI da macht, es bräuchte mehr Transparenz.

Laut einer IBM-Prognose müssen weltweit 40 Prozent aller Arbeitnehmer KI-Fertigkeiten hinzulernen. Wird sich die Welt noch stärker in KI-fitte Gewinner und KI-ferne Verlierer teilen?
Beides ist möglich. Momentan bist du im Vorteil, wenn du gut Deutsch oder Englisch kannst, weil du der KI exakte Prompts geben kannst. Aber gleichzeitig birgt KI für weniger Gebildete enorme Potenziale. So jemand geht vielleicht bislang nicht zum Anwalt, wenn er einen Inkassobrief bekommt. Wenn er aber einen KI-Bot von der Verbraucherzentrale zur Seite gestellt bekommt, nimmt er seine Rechte vielleicht ganz anders wahr. Wenn KIs wie ChatGPT oder Perplexity nicht mehr so viel lügen und auch didaktisch besser gemacht werden, bin ich extrem optimistisch, welches Potenzial das für Kinder in Entwicklungsländern hat. Da draußen sind garantiert eine Million Kinder, die so hungrig und neugierig sind, dass sie Nobelpreisträger werden könnten, wenn ihnen nur jemand ihre Fragen beantworten würde. Einige von ihnen könnten sich mit Hilfe einer KI am Schopf aus dem Sumpf ziehen. Wenn da jemand das richtige Tool baut, könnte das irre gute Auswirkungen haben.

Sollte die Nutzung von KI so frei bleiben wie bisher? In deinen Romanen gibt es KI-Sperrvertrag, in dem eine UNO-Behörde streng über KI-Anwendungen wacht.
Ich glaube schon, dass wir sowas brauchen. Das Gegenargumente lautet immer: Das lässt sich nicht durchsetzen. Aber es ist ja auch verboten, im Internet Bilder oder Musik zu klauen. Auch wenn dagegen verstoßen wird, ändert es nichts daran, dass wir eine Wertsetzung haben, wie mit intellektuellem Eigentum umzugehen ist. Und genauso brauchen wir Wertvorstellungen, was wir von der KI möchten und was nicht. Der erste Schritt wäre, das Gewaltmonopol des Staates zu sichern. Da müsste es schon einen Not-Ausschaltknopf geben – sonst ergeht es uns so wie mit den sozialen Netzwerken, deren Macht jetzt kaum noch einzudämmen ist.

Wie siehst du die Zukunft der Gesundheitsversorgung mit ihren riesigen Datensätzen im Lichte der KI-Debatte?
Das wirft verschiedene ethische Fragen auf. Natürlich könnte man viel stärker dafür sorgen, dass die Menschen länger gesund bleiben, länger arbeiten und mehr von ihrer Rente haben.

Gerade Versicherungen könnte es doch beispielsweise interessieren, aus dem Ernährungs- und Bewegungsverhalten individuelle Ratschläge zu erstellen. So etwas könnte ein persönlicher KI-Assistent übernehmen, für den man sich früher noch einen teuren Ernährungsberater hätte leisten müssen. Wenn man diesen Gedanken radikal weiterdenkt, würde der KI- Assistent dann sagen: „Sie haben schon wieder Alkohol getrunken, dadurch steigt ihr Krankenkassenbeitrag um 0,003 Prozent.“

Wahrscheinlich wollen wir so etwas als Gesellschaft nicht, aber es könnte Abstufungen geben. Je älter wir werden, desto wahrscheinlicher wird es, dass eine Gesellschaft solche Maßnahmen zulässt. Alkohol zu trinken, würde nicht verboten, aber wer weiter trinkt, muss eben mehr zahlen. Das klingt weit weg, aber irgendwann könnte es einen Kipppunkt geben.

Gehst du dann heute lieber noch schnell einen guten Wein trinken?
Nein, aber ich werde mir Pasta mit Gambas kochen. Diese sinnliche Erfahrung des Selberkochens kann nämlich auch in Zukunft durch keine digitale Technologie ersetzt werden.

„Seltsam, dass wir die KI nicht das machen lassen, was wir Menschen nicht so gut können.“

Tom Hillenbrand
ist Schriftsteller und 1972 in Hamburg geboren. Er arbeitete zuletzt als Wirtschaftsredakteur für den Spiegel. 2011 veröffentlichte er sein erstes Buch, den kulinarischen Krimi  „Teufelsfrucht“, aus dem er eine Reihe entwickelte. 2018 erschien sein erster Science-Fiction-Krimi „Hologrammatica“, dem 2020 „Qube“ folgte und nun „Lieferdienst“.